005 - Tagebuch des Grauens
tot.
Plötzlich kommt ein Sturm auf. Ich stehe unvermittelt im Zentrum eines Wirbelsturmes, der mich fast umwirft. Doch die Bäume rund umher sind völlig ruhig.
Ich halte mir die Hände vor das Gesicht, um mich zu schützen. Der Sturm will sie mir wegreißen, aber ich nehme alle Kraft zusammen, und es gelingt mir, ihm zu widerstehen.
Dann ist alles wieder still.
Tiefes Schweigen herrscht im Wald.
Michel liegt tot zu meinen Füßen.
Ich gehe ins Dorf und suche die Gendarmeriestation auf. Dort erkläre ich, dass ich Michels Leiche gefunden habe.
Damit riskiere ich nichts. Ein Schuss hat sich aus seinem Gewehr gelöst. Das lässt sich leicht nachprüfen. Da seine rechte Hand verletzt ist, wird man annehmen, dass er sich durch Ungeschicklichkeit selbst getroffen hat. Es handelt sich demnach um einen Jagdunfall. So etwas passiert häufig genug.
Niemand wird wissen, dass es kein Unfall war.
Michel wird morgen schon beerdigt werden. Ich werde an seiner Beisetzung teilnehmen.
Jetzt bin ich erleichtert. Ich habe getan, was ich tun musste. Wird es genügen, um Suzanne zu retten?
Suzanne habe ich nichts von Michels Tod erzählt. Sie schläft ruhig und friedlich neben mir. Zum ersten Mal seit vielen Wochen ist sie sofort eingeschlafen.
Ich betrachte sie. Ihre Züge sind weniger angespannt als sonst. Eine törichte Hoffnung erfüllt mich. Vielleicht habe ich sie wirklich gerettet.
Bald werden wir wieder zu unserem früheren Leben zurückkehren können und den grauenhaften Alptraum vergessen dürfen, den wir durchlebt haben. Dann wird Suzanne auffallen, dass Michel nicht mehr kommt.
Ich werde ihr sagen, dass er eine Weile verreist sein wird.
Und später erzähle ich ihr dann die Wahrheit, sehr viel später erst.
Immerfort muss ich an Michel denken. Ich denke an den Hass in seinen Zügen, als er mich Mörder nannte.
Wo ist er jetzt? Vielleicht beginnt er schon, für seine Tat zu büßen.
Suzanne schläft so ruhig. Fast liegt ein Lächeln auf ihren zarten Zügen. Ja, ich glaube, dass sie gerettet ist.
Morgen Abend sollte sie »gehen«. Doch das muss sie nun nicht mehr. Ich bin überzeugt davon, dass sie nicht sterben wird.
Aber warum kann ich nicht einschlafen?
Neben mir brennt die Lampe. An der Zimmerdecke zeichnen sich Schatten ab. Es ist halb zwölf Uhr nachts.
Vor einer Stunde sind wir ins Bett gegangen. Noch nie hat Suzanne in der letzten Zeit so lange und so gut geschlafen.
Ich betrachte sie.
Und immer wieder schiebt sich ein anderes Bild vor meinen Blick:
Der Schuss kracht. Ich sehe den Blutfleck auf Michels Brust.
Jetzt liegt Michel einsam in seinem kalten Haus aufgebahrt, bewacht von der Totenwäscherin.
Warum ist es eigentlich üblich, bei einem Toten zu wachen? Michel kann jetzt nicht mehr entwischen. Er kann kein Unheil mehr anrichten.
Mitternacht. Ich zähle die Schläge. Selbst die Uhr scheint erschöpft, und ich habe den Eindruck, dass sie heute besonders langsam schlägt.
Plötzlich höre ich Atemzüge. Sie kommen aus der Zimmerecke.
Nein, von Suzanne stammen sie nicht. Es ist etwas anderes. Was?
Ich richte mich halb auf. Das Licht erhellt die Wand mir gegenüber nur schwach. Jetzt sehe ich einen Schatten. Dann blitzt es darin auf.
Die Zähne!
Meine Hände verkrampfen sich um die Bettdecke. Ja, da sind sie. Der Mund mit den schmalen Lippen ist wieder da.
Es ist Michels Mund.
Was will er von mir?
Die Zähne schweben in der Luft. Langsam kommen sie näher. Ein Lachen schlägt mir schmerzhaft ans Trommelfell. Der Mund spricht. Zuerst vernehme ich Worte, deren Sinn ich nicht verstehe, dann höre ich deutlich: »Mörder!«
Es ist Michels Stimme. Sie klingt genauso wie heute Morgen.
»Mörder!«
Ich halte mir die Ohren zu, aber ich höre sie immer noch. Die Zähne knirschen und nähern sich mir.
Wie weit sind sie jetzt noch entfernt? Einen Meter? Nein, nicht einmal soviel. Ganz nahe sind sie an mich herangekommen. Über und unter dem Mund sind nur nebelhafte Formen zu erkennen.
Da ist die Hand! Die Hand, die ich gestern mit einem Messer durchbohrte.
In der Mitte sieht man das blutige Mal. Ich kann sogar die Wundränder erkennen.
Die Hand schwebt durch die Luft. Drohend schließen sich ihre Finger wie eiserne Klammern. Sie schwebt auf mich zu. Und wieder lässt der Mund ein grausiges Lachen hören.
Ich bin nahe daran, den Verstand zu verlieren. Ich halte es nicht mehr aus. Ich muss fliehen.
Doch ich bin dazu nicht imstande. Ich kann kaum meine Hände bewegen,
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