005 - Tagebuch des Grauens
geht alles ganz einfach. Zu einfach fast.
Ich steige die Treppe empor. Diesmal brauche ich mich nicht zu bemühen, leise zu gehen.
Wenn die alte Frau, die bei Michels Leiche wacht, mich hört, wird sie sich fragen, wer so spät in der Nacht wohl noch kommt.
Sie wird Angst haben. Nein, Leichenwäscherinnen haben nie Angst. Sie sind selbst lebende Leichname.
Ich werfe einen Blick auf die Wand, vor der ich die Zähne gesehen habe. Nichts. Alles ist dunkel.
Warum sind sie nicht da? Eigentlich war ich darauf vorbereitet, sie hier zu sehen.
Wenn ich sie wirklich erblickt hätte, wäre ich vielleicht zurückgewichen. Doch so setze ich meinen Weg fort.
Alles was mich erschreckt hat, die Zähne, der Mund, die Hand … gibt es das vielleicht nur in meinem Haus, während hier wieder alles so ist wie früher?
Es herrscht Totenstille. Und eisige Kälte.
Jetzt stoße ich die Schlafzimmertür auf. Mein Blick fällt sofort auf Michels Körper, der auf dem Bett aufgebahrt ist, auf dem Bett, in dem ich ihn in der Nacht zuvor vergeblich gesucht habe.
Auch die alte Frau ist da, die die Totenwache hält. Sie liegt im Lehnstuhl und schläft. Ebenso wie Michel, nur dass er nie mehr erwachen wird.
Eine Kerze flackert und wirft unregelmäßige Schatten an die Wände.
Ich muss es wissen.
Langsam trete ich zu Michel. Die alte Frau schnarcht leise.
Wenn sie plötzlich erwachen sollte, werde ich gleich beruhigend auf sie einreden. Sie kennt mich vom Sehen und wird über meine Anwesenheit nicht erschrecken.
Michels Hand ist bandagiert. Vorsichtig löse ich den Verband.
Mir graut vor der toten, kalten, starren Hand, aber ich muss Bescheid wissen.
Die Binde fällt zu Boden, und ich sehe die Wunde vor mir. Es ist kein Zweifel möglich: Die Wunde stammt von dem Messer, das ich in den Handrücken gestoßen habe.
Und dieselbe Wunde habe ich soeben in der Hand gesehen, die ohne Körper durch den Raum schwebte und mich bedrohte.
Lange betrachte ich sie. Fast scheint es mir, als verdopple sich die Hand. Eine zweite Hand scheint sich aus ihr herauszuheben, und diese zweite Hand ist voller Leben.
Ich sehe, wie die Finger sich krümmen.
Will sie auf mich zuschießen? Aber wie ist es möglich, dass ich plötzlich statt einer Hand zwei sehe? Eine, die tot ist, und eine, die lebt.
Im Schein der Kerze huschen gespenstische Schatten über die Wände. Ich frage mich, ob es nicht besser wäre, wenn ich Michels Hand abhauen und ins Feuer werfen würde, damit sie sich vor meinen Augen in Asche auflöst.
Nein, das kann ich nicht tun. Es wäre Leichenschändung, und man würde es bemerken.
Die alte Frau spricht im Schlaf. Ihr Kopf ist vornüber gesunken. Sie schläft.
Ich bin allein mit dem Toten. Sie zählt nicht.
Mit gespannter Aufmerksamkeit betrachte ich die Hand. Jetzt sehe ich nichts Ungewöhnliches mehr. Es ist zu hell. Würde die Kerze verlöschen, so würde die andere Hand, die lebendige, gewiss nicht zögern. Sie würde sich auf mich stürzen und mich packen.
Die Kerze. Es scheint mir, als flackere sie beängstigend. So, als würde jemand mit voller Kraft in ihre Richtung blasen, um sie auszulöschen.
Die Flamme zuckt und flackert. Sie darf nicht ausgehen. Wenn das geschieht, muss ich die Flucht ergreifen. Ich muss davonlaufen, so schnell mich meine Füße tragen.
Die Kerze darf nicht verlöschen!
Denn auch die Flucht würde mir nichts nutzen. Die Erscheinung würde mich sicher verfolgen.
Ich betrachte den toten Michel. Starr und tot liegt er da.
Seine Lippen sind verzerrt und seine Zähne fest zusammengebissen. In den letzten Sekunden seines Lebens hat er mich verflucht. Sein Hass wird mich über das Grab hinaus verfolgen.
Aber im Augenblick bin ich in Sicherheit. Seine Hand soll mir nichts anhaben können.
Das Auge, das sie berührt hat, ist schon fast wieder genesen. Die Sehkraft ist beinahe völlig zurückgekehrt. Ich werde nicht zum Krüppel werden. Deshalb fühle ich mich jetzt wieder stark. Er vermag nichts gegen mich.
Doch er hat wirklich versucht, mein Auge zu zerstören. Seine Hand ist noch verkrampft, und ich bemerke einen roten Fleck an ihr. Es ist geronnenes Blut.
Er muss furchtbare Schmerzen ausgestanden haben, als ich seine Hand mit dem Messer auf dem Küchentisch anheftete.
Ach, wenn ich doch auf dieselbe Weise seinen Mund an die Wand schlagen könnte! Diese Idee ist mir bisher noch nicht gekommen. Ja, ich müsste seinen Mund an die Wand nageln.
Dann wäre er ohnmächtig. Er könnte mir nicht mehr
Weitere Kostenlose Bücher