005 - Tagebuch des Grauens
mich nach ihm um und fahre zusammen. Seine rechte Hand ist bandagiert. Ich bin überzeugt davon, dass es diese Hand ist, in die ich das Messer gestoßen habe.
Er hat meinen Blick bemerkt und lächelt. »Ich bin gestern Abend ein bisschen ungeschickt gewesen«, erklärt er.
»Schlimm?«
»Nein, nur schmerzhaft und hinderlich.«
Er sieht mich an. Ich bin überzeugt, dass er weiß, dass ich nun Bescheid weiß. Äußerlich sind wir beide ganz ruhig.
»Und wie geht es Suzanne?« fragt er.
Ich zucke die Achseln. »Sie ist von Tag zu Tag immer erschöpfter.«
Er sieht mich an, und es scheint mir, dass seine Augen aufleuchten. »Hoffentlich wird sie wieder gesund.«
»Ja, das hoffe ich auch.«
Wir sehen uns schweigend an. Ich betrachte seinen Mund, seine Zähne …
Ich muss ruhig bleiben, denke ich. Er darf mir nichts anmerken.
»Es war ein schrecklicher Sturm heute Nacht, nicht wahr?« sagt er.
»Ja.«
»So heftig hat es selten gestürmt. Ich habe mir einmal sogar eingebildet, dass jemand ins Haus gekommen sei«, fährt Michel fort.
»Tatsächlich?« Ich sehe ihn an, ohne eine Miene zu verziehen.
»Ja, tatsächlich. Ich habe Schritte gehört.«
Was soll ich darauf erwidern? Er weiß ja, dass ich es war. Während wir uns unterhalten, hat er sich zum Aufbruch fertiggemacht.
»Ich werde eben mit der Linken schießen«, sagt er.
Gleich darauf brechen wir auf. Schweigend gehen wir dahin. Ob er ahnt, was ich vorhabe? Ausgeschlossen. Ich wage nicht, ihn anzusehen, weil ich fürchte, er könnte in meinem Blick lesen, was ich vorhabe:
Jetzt sind wir in dem Wäldchen angekommen, in dem wir zu jagen pflegen.
»Geh im Bogen auf die andere Seite und komm dann auf mich zu. Ich bleibe hier«, sage ich.
So machen wir es immer. Dadurch treiben wir uns das Wild gegenseitig zu. Das nächste Mal komme dann ich ihm entgegen, und so wechseln wir laufend ab.
Er entfernt sich. Ich verberge mich hinter einem dichten Busch. Das Gewehr habe ich schussbereit. Ich kontrolliere es noch einmal. Alles ist in Ordnung.
Sobald Michel zurückkommt, werde ich ihn ins Herz schießen. Das einzig Bedauerliche daran ist, dass er sterben wird, ohne zu wissen, dass sein Tod mein Werk ist. Außerdem wird er viel schneller sterben, als er es verdient.
Nun, das lässt sich nicht ändern. Ihm gegenüber muss ich ohne Vorwarnung handeln, sonst vereitelt er meinen Plan wieder.
Minuten vergehen. Ein großer Hase springt zehn Meter vorn mir entfernt aus dem Unterholz und hoppelt in gemäßigtem Tempo davon. Ich hätte ihn leicht erlegen können, aber ich halte mich zurück.
Endlich sehe ich Michel auftauchen. Er bietet ein sehr gutes Ziel. Mich kann er nicht sehen, denn der Busch hält mich vor ihm verborgen. Ich rühre mich nicht. Dann bemerke ich, dass der Lauf seines Gewehres auf mein Versteck gerichtet ist.
Will er schießen? Will er zuerst schießen?
Ich darf mich nicht rühren. Er ist vorsichtig und auf alles gefasst, aber er weiß nicht, wo ich bin.
Ich muss warten und darf mich nicht rühren. Wenn ich das Gewehr anlege, wird er schießen, noch ehe ich selbst dazu Gelegenheit habe.
Er bleibt zögernd stehen. »Pierre!« ruft er.
Seine Stimme ist merkwürdig unsicher. Er sucht mich.
Dieser Schuft! Ich weiß, dass er schießen wird, wenn ich antworte und er merkt, wo ich bin.
Anscheinend denkt er, dass ich einen Bogen um ihn geschlagen habe. Er sieht sich um.
Ich nutze die Chance. Schon habe ich das Gewehr angelegt. Nur noch ein paar Zentimeter, dann habe ich ihn im Visier.
Wieder ruft er nach mir.
»Pierre! Antworte doch!« Er ist sichtlich beunruhigt.
Ich schiebe den Lauf meines Gewehres durch die Zweige. Er ist direkt auf Michels Brust gerichtet.
Michel tritt einen Schritt vor. Er hat den Finger am Abzug. Ich drücke ab.
Er ist zu Boden gestürzt. Das Gewehr ist seinen Händen entglitten, und der Schuss hat sich gelöst. Die Kugel pfeift über meinen Kopf hinweg.
Ich laufe zu ihm. Er liegt auf dem Bauch, und ich drehe ihn um. Ein großer Blutfleck ist auf seiner Brust zu sehen. Der Schuss hat gesessen.
Michel schlägt die Augen auf. Er sieht mich an. Seine Züge verzerren sich, während ich mich über ihn beuge.
»Mörder!« stößt er hervor.
Ich gebe ihm keine Antwort.
»Du hast mich getötet«, stammelt er.
»Und du hast Suzanne getötet«, erwidere ich.
Er presst die Zähne zusammen. Er will etwas sagen, aber ein Blutstrahl quillt aus seinem Mund. Seine Augen brechen, und sein Kopf fällt schlaff zur Seite.
Er ist
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