0059 - Hexenverbrennung
erkannte ich, daß wir uns noch immer in England aufhielten. Wir waren also nur um ein paar Jahrhunderte zurückversetzt, nicht aber in ein fremdes Land verfrachtet worden.
Wie tröstlich, dachte ich grimmig und wandte mich dem Geschehen auf dem Marktplatz zu. Und da gab es eine Menge zu sehen.
In der Mitte des Platzes ragte ein Baum in den abendlichen Himmel. Und rings um den Baum war ein Scheiterhaufen aufgeschichtet!
Seltsamerweise konnte ich nicht alles klar und deutlich sehen. Manchmal war mir, als würden sich Schleier vor meine Augen legen. Oben auf dem Scheiterhaufen stand jemand. Ich vermochte jedoch nicht, diese Person zu erkennen.
Verwirrt sah ich mich um. Ich wußte nicht, ob sich außer uns noch Leute auf dem Platz aufhielten. Es war gespenstisch. Wir waren hier und waren es gleichzeitig nicht. Ich bezweifelte, ob uns die Hexen des alten Hauses wirklich in diese längst vergangene Zeit versetzt hatten. Vielleicht gaukelten sie uns das alles nur in Form einer Vision vor!
Ich drückte Janes und Sukos Hände fester.
Ein übler Gedanke kam mir. Vielleicht sollten sogar wir drei auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden! Da hätte ich einiges dagegen gehabt und mich auch zur Wehr gesetzt. Noch besaßen wir unsere Waffen. So leicht würden uns die Hexen nicht unterkriegen.
Vorläufig ließ man uns in Ruhe. Ich kniff die Augen zusammen, bis sich der Schleier um die Gestalt auf dem Scheiterhaufen lichtete. Ich biß die Zähne zusammen.
»Mara Lacatte!« rief Suko erschrocken.
Tatsächlich, es war die ehemalige Hexe! Entsetzt und verzweifelt starrte sie zu uns herüber. Ihre großen blauen Augen waren direkt auf mich gerichtet, als ob sie mich sehen konnte. Ich wollte sie rufen, doch meine Stimme versagte.
Geräusche ließen mich nach oben blicken. Es hörte sich wie Flügelschläge riesiger Vögel an. Was ich jedoch erblickte, waren keine Vögel sondern Flugvampire.
Die Hölle sandte Boten, die die Verbrennung der Hexe beobachten sollten! Die Flugvampire griffen nicht ein. Sie zogen ihre Kreise über dem Marktplatz und starrten auf uns herunter. Unwillkürlich rückten wir enger zusammen.
Im nächsten Moment entdeckte ich auf dem Marktplatz noch eine Gestalt, einen grauhaarigen Mann. Er war wie ein Mönch gekleidet und trug eine Fackel in der hoch erhobenen Faust.
Sein Gesicht war besonders klar und deutlich zu sehen. Unauslöschlich prägten sich mir seine Züge ein. Wut und Haß loderten in seinen Augen, als er sich bückte, um den Scheiterhaufen anzuzünden.
»John«, flüsterte Suko. »Das können wir nicht zulassen!«
»Es ist eine Vision!« flüsterte ich zurück. »Mara Lacatte schwebt nicht in Lebensgefahr! Ihre Schwestern wollen uns nur zeigen, daß Mara durch diesen alten Mann vernichtet werden soll!«
»Hoffentlich hast du recht, John«, murmelte Jane. »Sie haben trockenes Holz für den Scheiterhaufen genommen. Es brennt höllisch schnell!«
Sie hatte recht. Mit atemberaubender Geschwindigkeit fraßen sich die Flammen zur Mitte vor. Schon umhüllten ihre Spitzen die schlanke Gestalt, die an den Baum gebunden worden war.
Mara begann zu schreien und sich gegen ihre Fesseln zu stemmen. Es wirkte grauenhaft echt! Trotzdem war ich überzeugt, daß wir nur Trugbilder sahen. Wir konnten gar nicht eingreifen, selbst wenn wir gewollt hätten.
»Das kann ich nicht mit ansehen!« rief Jane.
Ehe ich begriff, riß sie sich von Suko und mir los. Damit unterbrach sie den schützenden Kreis, den wir bildeten. Sie lief über den Marktplatz.
Ich schrie eine Warnung hinter ihr her und hetzte ihr nach, aber – ich erreichte sie nicht. Wie in einem Alptraum rannte ich zwar wie von Sinnen, kam jedoch nicht von der Stelle. Suko erging es genauso.
Jane blieb einige Schritte vor dem Scheiterhaufen stehen, wirbelte zu uns herum und schrie gellend auf.
Ich wußte nicht, worüber sie so erschrak, und ich erfuhr es nicht. Denn im nächsten Moment löste Jane sich in Nichts auf, und Sekunden später war die Vision vorbei.
Suko und ich standen wieder im Garten des Hexenhauses an der Themse. Es war Nacht, und auf der Erde lag eine feine Schneedecke.
Jane blieb verschwunden.
***
»John!« schrie Suko. Er sah sich wild um, konnte Jane jedoch auch nicht entdecken.
»Stehenbleiben!« rief ich meinem Freund zu. Er rührte sich nicht von der Stelle. Ich schaltete die Kugelschreiberlampe ein und beleuchtete den Boden. Der Schnee war nicht geschmolzen. Es war seit Tagen eisigkalt in London. Deutlich konnte ich
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