0059 - Hexenverbrennung
Mitternacht hätten das ganze Haus geweckt. Wenn die Leute auf die Korridore strömten, konnten sie mit dieser tödlichen Masse in Kontakt kommen. Das mußte ich unter allen Umständen verhindern.
Deshalb löste ich mein Silberkreuz vom Hals und hetzte hinter dem Todesboten her.
Er bewegte sich nicht sonderlich schnell, so daß ich ihn noch in der dritten Etage einholte.
Blitzschnell drückte ich das Silberkreuz in die graue Masse.
Sofort stieg mir beißender Schwefelgeruch in die Nase. Das schleimige Ding ballte sich zusammen, zuckte heftig und wich dem Kreuz aus. Ein Teil der dämonischen Masse blieb auf der Treppe liegen, verhärtete sich innerhalb weniger Sekunden und zerfiel zu Staub.
Im nächsten Moment breitete sich die Dämonenmasse wieder aus und floß ungehindert weiter.
»So bekommen wir das Ding nie!« schrie Suko. »Wir müssen das Zeug überholen, John!«
Er hatte recht. Der Todesbote war eindeutig zu Mara Lacatte unterwegs, um sie zu vernichten. Ihre Schwestern wollten sich nicht allein darauf verlassen, daß die Polizei die Abtrünnige aus dem Verkehr zog. Sie versuchten alles, um die Verräterin zu bestrafen.
Ich hatte nicht mehr viel Zeit. Der Todesbote war der beste Beweis dafür, daß Mara zu Hause war. Wenn ich sie lebend wiedersehen wollte, mußte ich handeln.
Ich warf einen flüchtigen Blick über das Treppengeländer in die Tiefe und schauderte. Drei Stockwerke tiefer erahnte ich den Steinboden.
Trotzdem drückte ich Suko meine Stablampe in die Hand, damit er mir leuchtete, und schwang mich über die Balustrade.
Das Geländer des nächsten Treppenabsatzes war zu weit entfernt, als daß ich danach greifen konnte. Ich holte tief Luft und stieß mich ab.
Für Bruchteile von Sekunden schwebte ich über dem Abgrund.
***
Jane Collins konnte nicht tatenlos zusehen, wie eine Wehrlose auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Sie fühlte, wie ihre Begleiter sie festhielten, damit sie sich nicht von der Stelle rührte.
Trotzdem riß sie sich los und trat vor.
Im nächsten Moment bereute sie ihren Fehler. Hatte sie bisher die schauerliche Szene nur undeutlich gesehen, schwand nun der Schleier vor ihrem Gesicht.
Sie hörte gellende Stimmen, wütende Rufe, Beschimpfungen und Drohungen. Rings um sie waren Männer, Frauen und Kinder. Im Dämmerlicht erkannte Jane Collins altertümlich gekleidete Leute.
Entsetzt blickte sie sich um. Von John und Suko war nichts mehr zu sehen. Auch am Rand des Platzes, wo sie bisher gestanden hatten, waren sie nicht mehr. Dadurch, daß sie sich von ihren Begleitern getrennt hatte, war sie in die Vergangenheit geschleudert worden. Nun befand sie sich tatsächlich auf dem Marktplatz.
Der Mönch richtete sich auf. Er hob die Fackel hoch über seinen Kopf und rief etwas, das Jane nicht genau verstand. Die Sprache war zwar englisch, klang jedoch fremdartig. Jane erriet, daß er einen Fluch über die Hexe auf dem Scheiterhaufen sprach.
Die Menge stimmte heulend und schreiend ein. Männer und Frauen schwangen drohend die Fäuste, sogar die Kinder schlossen sich an. Sie ahmten das Beispiel der Erwachsenen nach.
Vorbei war es mit Janes Absicht, Mara vom Scheiterhaufen herunter zu holen. Sie war vernünftig genug, um sofort einzusehen, daß sie nichts erreichen konnte.
Die Menge auf dem Marktplatz war fanatisch aufgeheizt. Solche Leute sind immer gefährlich. Jane versuchte, sich unauffällig zurückzuziehen.
Sie schaffte es nicht. Plötzlich stießen ein paar Frauen in ihrer Nähe grelle Schreie aus und deuteten mit ausgestreckten Armen auf Jane.
Sie sah erschrocken an sich hinunter. Schlagartig begriff sie. Mit ihren modernen Kleidern aus dem zwanzigsten Jahrhundert wirkte sie hier auffälliger, als wenn sie splitternackt gewesen wäre. Außerdem war es bei dieser Hexenverbrennung auf dem abendlichen Marktplatz Hochsommer. Erst jetzt bemerkte Jane, wie warm es war. Und sie trug einen Pelzmantel!
»Fangt sie!« brüllte ein Mann. »Hexe! Hexe! Hexe!«
Das verstand auch Jane!
Sie drehte sich in Todesangst herum und warf sich zwei Männern entgegen, die sich ihr in den Weg stellten. Zwei Judogriffe, und der Weg war frei.
Jane schnellte sich durch die entstandene Lücke und lief um ihr Leben. Wenn die Leute sie faßten, landete sie wie Mara Lacatte auf dem Scheiterhaufen. Das änderte auch nichts daran, daß sie aus einer anderen Zeit kam. Mara stammte genau wie sie aus einer fernen Zukunft und wartete trotzdem auf dem Scheiterhaufen auf ihren Tod!
Die Straßen
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