006 - Der lebende Leichnam
Körperlich. Obwohl ich für die anderen unsichtbar bin und meinen Körper im Bett sitzen sehe, habe ich doch nicht das Gefühl, ein Gespenst zu sein. Ich spüre meinen zweiten Körper, kann ihn betasten, ich kann ihn sogar sehen.
Ich fühle mich leicht wie eine Feder, aber meine Muskeln und Sinne arbeiten ganz normal.
Marlat kommt zur Tür herein. Mireille ist wieder an mein Bett getreten. Sie hält meine Hand.
»Das Herz schlägt, aber man spürt den Puls kaum.«
»Wie früher.«
»Sollen wir ihn so lassen?«
»Ich frage mich, wie er auf eine intravenöse Spritze reagieren würde.«
»Haben Sie es noch nicht versucht?«
»Nein. Ich dachte, das sei noch zu früh. Dafür sollte er bei Bewusstsein sein.«
Beide fühlen mir den Puls. Ich finde sie ziemlich lächerlich. Als sich Mireille vom Bett entfernt, benutze ich die Gelegenheit, um wieder in das, was man meine sichtbare Hülle nennen könnte, zurückzukehren.
Dabei hat sich meine Bettdecke ein wenig verschoben, aber weder Mireille noch Dr. Marlat haben es gemerkt. Letzterer erklärt: »Sein Pulsschlag wird schneller.«
Ja, und ich öffne die Augen, wobei ich mir Mühe gebe, ein erstauntes Gesicht zu machen.
»Ach! Herr Doktor!«
Diesmal hören mich die beiden. Marlat setzt sich auf die Bettkante.
»Was haben Sie verspürt?«
»Nichts Besonderes.«
Ich heuchle Erstaunen, denn warum sollte ich jetzt noch mit ihm über meinen Zustand diskutieren? Nein, kommt gar nicht in Frage. Was ich soeben herausgefunden habe, geht nur mich etwas an. Ich bin sogar überzeugt davon, dass mich Marlat für verrückt erklären würde, wenn ich versuchen wollte, mit ihm ganz offen über alles zu sprechen.
Er sieht mich streng an.
»Sie hätten eigentlich wieder dieses merkwürdige Gefühl verspüren müssen, von dem Sie erzählt haben.«
»Welches Gefühl?«
»Das, was Sie für das Überwechseln in eine andere Dimension halten.«
»Warum?«
»Ach, ich dachte bloß …«
»Ich habe geschlafen.«
»Ohne Träume? Ohne Alpträume?«
»Ich kann mich an nichts erinnern.«
Er zieht im Geist seine Schlüsse, und ich spüre es genauso, als handle es sich um meine eigenen Gedanken: »Verminderter Stoffwechsel während des Schlafs.«
Ich fange also auch seine Gedanken auf. Es war kein Zufall bei Mireille. Vielleicht habe ich die Krankenschwester »gezwungen«, mich zu küssen, nur weil ich mich danach sehnte. Plötzlich bin ich mir gar nicht mehr so sicher, dass es ein Zufall war.
Und bei Marlat? Könnte ich auch von ihm etwas verlangen? Mal versuchen. Ich wünsche mir, dass er sich an das Kopfende meines Bettes stellt und die Hände in die Hüften stützt.
Er tut es, wenn auch irgendwie widerwillig. Ich empfange seine Gedanken. Er ist verwirrt. Ich nehme ganz genau wahr, wie er denkt: »Eine lächerliche Haltung, die ich da einnehme.«
Sofort lässt er, gegen meinen Willen, die Arme sinken, und ich spüre dabei eine leichte Müdigkeit in mir aufsteigen. Ich kann offenbar bestimmte Dinge verlangen, aber dieser Fähigkeit scheinen Grenzen gesetzt zu sein.
»Morgen möchte ich einige Tests mit Ihnen machen«, sagt Dr. Marlat.
Er ärgert sich über sich selbst und sieht mich nachdenklich an. Ich konzentriere mich darauf, dass er mir etwas zu rauchen anbietet, und im gleichen Augenblick steckt er seine Hand in die Tasche. Unter Mireilles erstaunten Blicken zieht er ein Päckchen »Gauloise« heraus und wirft es mir auf die Bettdecke.
»Hier haben Sie etwas zu rauchen. Ich wüsste nicht, warum ich es Ihnen verbieten sollte.«
Er gehorcht mir ohne zu zögern, vorausgesetzt, dass meine Befehle nicht gegen seine logischen Überlegungen verstoßen. Ich nehme eine Zigarette. Schon beugt er sich vor und lässt sein Feuerzeug aufflammen.
Der erste Zug. Meine Lungen füllen sich, und ich muss husten.
Ich ruhe mich aus. Ich sage das so, aber in Wirklichkeit überstürzen sich meine Gedanken. Ich bin kein gewöhnlicher Mensch mehr. Ich verfüge über unglaubliche Fähigkeiten.
Natürlich weiß ich, worum es sich handelt. Ich habe Artikel und sogar Bücher über solche Dinge gelesen. Ich habe auch gehört, dass es auf diesem Gebiet alle möglichen phantastischen Dinge gibt, dass Fähigkeiten dieser Art in vielen Menschen schlummern.
Ich bin gewissermaßen ein Mutant geworden. Man hat mir das Leben gerettet, aber ich war zu lange starken radioaktiven Strahlen ausgesetzt. Alles in mir hat sich verwandelt, und einige meiner Fähigkeiten sind ins Unermessliche
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