006 - Der lebende Leichnam
mich?
Sicher hat Fautrier Marlat von dem Mord an Marie Sauvage erzählt. Vielleicht hat mir Marlat diese Spazierfahrt im Einverständnis mit dem Untersuchungsrichter vorgeschlagen, in der Hoffnung, ich würde mich durch eine Unvorsichtigkeit verraten.
Das habe ich auch getan. Aber in einer Art und Weise und mit Hilfe von Mitteln, von denen sie keine Ahnung haben. Ich zünde mir eine Zigarette an und lehne mich gegen die Wagentür.
Gewiss war es falsch, Talber vor Mireilles Augen und vor allem in Gegenwart des Doktors zu töten. Aber ich konnte nicht voraussehen, dass er mir folgen würde. Die Gelegenheit war so günstig, dass ich nicht widerstehen konnte.
Immer mehr Schaulustige finden sich ein, und jetzt ist auch die Polizei da. Sie versucht, die Neugierigen zu zerstreuen. Der Fahrer des Lastwagens spricht aufgeregt auf einen Polizisten ein, und Marlat kommt auf uns zu.
Sein Gesicht ist ernst, und er wirkt besorgt.
»Wir fahren in die Klinik zurück, Morel.«
»Und Mireille? Vielleicht will sie bei ihrem Verlobten bleiben.«
»Ich glaube, es ist besser, sie fährt auch mit zurück.«
»Also gut.«
Er steigt mit Mireille hinten ein, und ich setze mich ans Steuer.
»Hat die Polizei erlaubt, dass wir wegfahren?«
»Ich habe es ihnen gesagt. Man wird Mireille heute Abend oder morgen vernehmen. Übrigens, was kann sie schon aussagen? Es handelt sich doch um einen Unfall, nicht wahr?«
»Ja, und um was für einen dummen!«
Ich erwarte, dass Mireille protestiert, aber sie sagt kein Wort. Ich lasse den Motor an, um ein Stück weiter unten zu wenden. Ich spüre Marlats Blick im Nacken.
Was er jetzt wohl denkt? Er scheint die Wahrheit zu ahnen. Ich muss bald handeln, wenn ich vermeiden will, dass bei ihm der Verdacht zur Gewissheit wird. Natürlich kann er mich nicht der Polizei ausliefern, aber als Arzt hat er andere Mittel. Zum Beispiel kann er mich in eine Nervenheilanstalt einweisen lassen.
Ich biege in die Straße ein, die zur Klinik führt. Mireille sitzt völlig teilnahmslos neben Marlat. Als ich an einer Ampel stehen bleiben muss, drehe ich mich um und dringe in ihre Gedanken ein.
Genau das, was ich dachte. Sie steht noch ganz unter dem Eindruck des grausigen Geschehens. Aber da ist noch etwas anderes. Es hängt mit mir zusammen. Sie weiß, dass Marlat mich für Marie Sauvages Mörder hält. Er hat es ihr gesagt, und sie hat nicht mit mir darüber gesprochen. Seitdem hat sie Angst vor mir.
Die Ampel zeigt jetzt grün, und ich muss weiterfahren.
Plötzlich frage ich mich, ob Marlats Verdacht nicht auf einer instinktiven Abneigung gegen mich beruht. Einer Abneigung gegen ein Wesen, das er für anders hält als die übrigen Menschen. Obwohl es mir scheint, dass ich mich physisch gar nicht verändert habe. Ich werfe einen verstohlenen Blick in den Rückspiegel.
Meine Augen haben einen anderen Ausdruck als früher. Wild wie die eines Raubtiers. Aber ich glaube nicht, dass Marlat nur deshalb so reagiert.
Die Klinik. Ich halte vor der Eingangstreppe, und Marlat hilft Mireille beim Aussteigen. Von nun an machen sie Front gegen mich. Sie sind zu Verbündeten geworden.
Der Doktor gibt der Empfangsschwester ein Zeichen, und im nächsten Augenblick erscheinen zwei Krankenschwestern, die Mireille wegführen.
Marlat wendet sich mir zu.
»Kommen Sie mit in mein Arbeitszimmer, Morel.«
Seine Stimme klingt hart und gebieterisch. Er geht rasch zum Aufzug. Ich folge ihm. Es fällt mir schwer, meine Wut zu verbergen. Noch immer kann ich nicht in seine Gedanken eindringen.
Ich frage mich, wie er das macht. Vielleicht verfügt er über außergewöhnliche Fähigkeiten, wenn auch auf einer niedrigeren Stufe als ich. Vielleicht hypnotische Kräfte, mit deren Hilfe er sich mir entziehen kann.
»Ich habe einige Tests erwähnt, denen ich Sie noch unterziehen möchte, Morel.«
»Ja.«
»Vielleicht ist jetzt nicht der richtige Augenblick dafür, denn Sie sind sicher noch ganz durcheinander. Aber ich möchte mich mit Ihnen unterhalten.« Das ist alles, was er mir nach dem grässlichen Zwischenfall, dessen Zeuge wir beide geworden waren, zu sagen hat? Ich lächle. Ich kann zwar nicht seine Gedanken lesen, aber ich errate sie. Er will mir eine Falle stellen.
Nur dass er höchst ungeschickt dabei vorgeht. Er müsste doch wissen, dass ich ihm misstraue, seit er seine Gedanken vor mir verbirgt.
Ein nüchternes Arbeitszimmer mit kahlen gelb gestrichenen Wänden. Ein riesiger Schreibtisch, auf dem nur ein
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