006 - Der lebende Leichnam
vor mich hin. Seine Rechnung geht nicht auf. Statt in meinen Körper zurückzukehren, warte ich ab, was weiter geschieht, denn ich will ihm nicht in die Falle gehen.
Plötzlich leuchtet über einem Lautsprecher ein rotes Lämpchen auf. Marlat schaltet ihn sofort ein.
»Hallo? Ja, Marlat.«
»Kommen Sie sofort, Doktor. Mireille … sie hat sich von der Terrasse gestürzt. Selbstmord.«
»Wie? Ja, ich komme.«
Er schaltet aus und sieht den Krankenpfleger fassungslos an.
»Pass gut auf ihn auf. Es ist möglich, dass die Spritze nicht lange vorhält. Sein Stoffwechsel reagiert nicht wie der unsere. Wenn er sich bewegt, muss er sofort wieder eine Spritze bekommen.«
Ich lasse Marlat hinausgehen, dann dringe ich in die Gedanken des Krankenpflegers ein. Keine große Leuchte. Marlat hat ihn nicht informiert. Er hat ihm nur gesagt, dass ich plötzlich zu toben anfangen könnte.
Ich merke sofort, dass ich ihn gut beeinflussen kann, und befehle ihm, mir die Zwangsjacke auszuziehen. Einige Sekunden lang versucht er, mir zu widerstehen, dann gehorcht er. Er heißt Oskar. Der Gedanke, die Anweisungen seines Chefs nicht zu befolgen, ist ihm sichtlich unangenehm, aber ich verwandle seine Gewissensbisse in Rachegefühle.
Zuerst nimmt er mir die Kapuze ab, die mein Gesicht bedeckt. Sicher hat er Marlat sofort benachrichtigt, als ich bewusstlos wurde. Und der Arzt hat die Gelegenheit wahrgenommen.
Die Zwangsjacke ist nun offen, aber ich wage nicht, in meinen Körper zurückzukehren. Der Krankenpfleger betrachtet mich geistesabwesend.
Ich werde ungeduldig, denn ich kann nichts unternehmen, um aufzuwachen. Zum Glück verspüre ich nicht die gleiche Panik wie in der Metro-Station Muette. Wahrscheinlich, weil ich meinem Körper so nahe bin.
Ich fahre fort, Oskar zu beeinflussen. Nach und nach suggeriere ich ihm Mordgelüste gegen Marlat ein. Er geht in dem kleinen Raum mit den gepolsterten Wänden auf und ab und flucht leise vor sich hin.
Noch immer liege ich auf der Pritsche und schlafe ganz tief. Oskar hat die Zwangsjacke in einen kleinen Schrank gelegt. Jetzt zündet er eine Zigarette an. Plötzlich höre ich, wie sich die Tür des Operationssaals öffnet. Bestimmt Marlat. Er kommt zurück.
Sofort stachle ich Oskars Wut an und befehle ihm, den Arzt zu ermorden. Er stürzt davon. Im Vorzimmer stößt er auf Marlat, den eine Krankenschwester begleitet. Mit wutverzerrtem, hochrotem Gesicht steht Oskar vor ihm und hebt drohend die riesigen Fäuste.
»Oskar!« brüllt Marlat.
Er hat begriffen, aber zu spät. Oskar fällt über ihn her. Entsetzt flieht die Krankenschwester in das Labor.
Der Pfleger hat Marlat am Hals gepackt. Der Arzt wehrt sich verzweifelt. Ich hätte nicht geglaubt, dass der kleine Spitzbart imstande wäre, sich so geschickt gegen den Riesen zu verteidigen.
Es gelingt ihm sogar, sich aus der Umklammerung zu befreien. Mit einem Satz springt er in das Labor. Jetzt muss ich wohl oder übel eingreifen. Ich stelle ihm ein Bein. Er stolpert, fällt hin, und Oskar stürzt sich wieder auf ihn.
Ich höre Schreie und erregte Stimmen. Die Krankenschwester hat Alarm geschlagen, und man eilt Marlat zu Hilfe. Man darf ihn nicht lebend finden. Oskar ist dabei, ihm den Kopf auf den Boden zu schlagen. Marlat blutet schon, als einige Pfleger in das Labor kommen.
Ich ziehe mich zurück, denn das, was jetzt geschieht, interessiert mich nicht mehr. Man wird annehmen, dass Oskar einen Tobsuchtsanfall bekommen hat. Ich begebe mich in das Vorzimmer und werfe einen Blick auf meinen Körper. Keine Veränderung. Ich nehme an, dass man sich in der allgemeinen Aufregung eine ganze Weile nicht um mich kümmern wird.
Aber das ist ein Irrtum. Die kleine Krankenschwester, die Marlat begleitete, betritt die Gummizelle. Sie sieht, dass ich schlafe, wundert sich aber nicht, dass ich keine Zwangsjacke anhabe.
Marlat hat ihr nichts gesagt. Sie deckt mich zu und geht hinaus. Einen Augenblick zögert sie, dann schließt sie die Tür hinter sich zu.
Zum Glück befinde ich mich im Vorraum. Sie schiebt den schweren Riegel vor die Tür, dann geht sie in das Labor. Man hat Oskar überwältigt. Da ich ihn nicht mehr beeinflusse, hat er sich beruhigt und starrt mit leerem Blick auf den Arzt.
Ich sehe mich rasch in dem Vorzimmer um. Im Hintergrund eine Treppe, die hinaufführt. Dreißig Stufen, und ich stehe vor einer verriegelten Tür. Ich öffne sie.
Vor mir liegt der Park. Niemand ist zu sehen. Ich darf keine Zeit verlieren. Ich steige wieder
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