0061 - Der Hexenberg
Nachtwind hatte ihren Körper gepeitscht. Dann musste sie ohnmächtig geworden sein.
Und nun?
Sie nahm die Fledermausmaske ab, die sie noch immer trug und blickte sich gehetzt um. Sie war allein. Astabaal, der Herr des fließenden Blutes, hatte sich entfernt.
Sie machte sich mit ihrer Umgebung vertraut. Es fiel ihr unendlich schwer, sich zu orientieren, denn all das, was um sie herum war, konnte nicht mit normalen Maßstäben gemessen werden.
Es gab keine festen Formen, keine Fixpunkte, an die sich das Auge klammern konnte. Die Konturen veränderten sich fortwährend, verschwammen, lösten sich auf, wurden neugeboren. Ähnlich war es mit den Farben. Giftiges Gelb machte blutigem Rot Platz. Dies wurde wiederum abgelöst von düsterem Violett oder abgrundtiefem Schwarz. Und immer wieder wurden diese Farbschattierungen, die der Skala des gewohnten Spektrums nur schwer zuzuordnen waren, von einem blendenden Weiß überlappt und ausgelöscht.
Herkömmliche Raumvorstellungen existierten nicht. Die Örtlichkeit, an der sie sich befand, erschien Nicole einmal als seitlich eingedrücktes Oval, dann wieder als Karree oder als perfekter Oktaeder von geometrischer Klarheit.
Sie schloss die Augen, um diesem schwindelerregenden Farbenund Formenterror zu entgehen. Aber auch ohne optisches Wahrnehmungsvermögen ließ der Taumel der unterschiedlichsten Eindrücke sie keine Sekunde los.
Sie lag auf irgendeinem Untergrund, der sich mal daunenweich, mal diamanthart anfühlte. Jetzt schienen klebrige Saugnäpfe an ihr zu ziehen, kurz danach war ihr, als würde sich eine Stahlfeder spannen, um sie im nächsten Augenblick in die Unendlichkeit zu schleudern. Dann hatte sie das Gefühl des Schwebens, von keiner Schwerkraft gebunden, losgelöst von allem Materiellen, um sich anschließend so schwer zu fühlen wie die Masse des gesamten Universums.
Und auch der Geruchssinn wurde von ebenso widersprüchlichen Einströmungen irregeführt. Schwefel, Vanille, Schwaden brennender Säuren, Bratenduft, Leichengift, Jasmin und Karbid.
Nicole gab es schließlich auf, sich zurechtzufinden. Wenn es hier feste Regeln gab, sie kannte sie nicht, würde wahrscheinlich niemals in der Lage sein, sie zu begreifen.
Abwarten – das war alles, was sie tun konnte. Irgendwann würde etwas passieren. Der Dämon hatte sie sicherlich nicht verschleppt.
Diese Vermutung bestätigte sich bald.
Urplötzlich kam das verwirrende Farbenspiel zum Stillstand, erstarrten alle Formen.
Eine dunkle, riesige Gestalt verurteilte alles andere zu bedeutungslosen Nebensächlichkeiten.
Astabaal war zu ihr zurückgekehrt.
***
»Sie war hier«, sagte Zamorra und hob beweisführend die Haarspange hoch in die Luft.
Bill verstand sofort. »Verdammt! Wenn ihr diese Fabienne etwas angetan hat… Ich breche ihr sämtliche Knochen.«
»Erst musst du sie mal haben«, stellte der Professor nüchtern fest.
Ein nachdenklicher Zug trat in sein Gesicht. Er schien regelrecht in sich hineinzuhorchen, den Eindruck hatte Bill jedenfalls.
»Wenn ich mich nicht allzu sehr irre«, sagte Zamorra und tippte auf seine Brust, wo das Amulett hing, »dann kann sie nicht allzu weit sein. Wahrscheinlich irgendwo auf dem Schlossgelände. Vielleicht sogar wieder in ihrem Zimmer.«
»Und wie soll sie da hingekommen sein? Hast du dafür eine Erklä- rung?«
»Nicht unbedingt eine die dich überzeugt«, antwortete Zamorra, der die Skepsis des Amerikaners übernatürlichen Dingen gegenüber nur zu gut kannte. »Nehmen wir einfach an, sie hat sich irgendwelcher teuflischen Künste bedient.«
Einen Gegenbeweis konnte Bill nicht erbringen. »Na schön«, sagte er brummend. »Warum gehen wir dann nicht und sehen nach? Aus dieser Ente schlüpfen höchstens Küken, aber keine Fabienne.«
Sie kehrten durch den Park zum Schlossgebäude zurück.
»Und jetzt?«, fragte Bill, als sie wieder vor dem schweren Eichenportal standen.
Zamorra griff nach dem Amulett. Es strahlte tatsächlich intensiver als am anderen Ende des Gartens. Er zweifelte jetzt nicht mehr daran, dass sich die Gouvernante wirklich im Haus befand. Und die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich in ihrem eigenen Raum aufhielt, war sehr groß geworden.
Noch etwas anderes war jedoch ebenso wahrscheinlich. Es würde ihnen nicht gelingen, sich unbemerkt der Frau zu nähern, da diese ebenfalls über irgendein Warnsystem zu verfügen schien. Überraschungseffekte schieden also aus. Blieb demnach nur der offizielle Weg. Höflich an die Tür klopfen und
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