0064 - Die Mühle der Toten
Er hielt das magische Amulett an der stabilen Kette, und er schlug damit auf den Grabhügel ein. Sofort gellte ein Heulen auf wie von einem verwundeten Wolf, hallte unheimlich in der Dämmerung.
Man hörte es im ganzen Dorf.
Bei jedem Schlag schwoll es an, ebbte dann wieder ab, um von neuem zu beginnen. Das schlimmste aber war, daß dieses dumpfe Heulen aus dem Grab kam. Welch eine Kreatur mochte sich darin verbergen?
Der weiße Dampf verwehte, verflüchtigte sich. Professor Zamorra sagte Sprüche der Weißen Magie auf. Er trat ein paar Schritte zurück, zu seinen Gefährten, und ließ das Amulett pendeln.
Alain Faber, der Totengräber, hatte Augen so groß wie Untertassen, und der Mund stand ihm offen vor Staunen und Entsetzen. Er war nicht fähig, sich zu rühren.
Nicole und Bill behielten die Fassung. Raoul Morgand machte ein finsteres Gesicht und starrte Zamorra und sein Amulett an. Manchmal flog sein Blick zum Grabhügel hin.
In der Dämmerung schienen Schatten zwischen den Grabsteinen und bei den hohen Friedhofsulmen zu nisten. Es war, als bewegten sie sich, als lauerten sie. Das wölfische, unheimliche Geheul war zu einem dumpfen Stöhnen geworden.
Zamorra schaute voller Konzentration auf das Grab. Er bot seine gesamte Willenskraft auf, projizierte sie durch das Amulett wie durch einen Verstärker, um das Grab zu öffnen.
»Geist!« rief der Professor mit hallender Stimme. »Komm heraus aus dem Grab. Zeige dich mir, im Namen der Weißen Magie und der Schwarzen!«
Erdschollen flogen von dem Grab. Dann geschah nichts mehr. Alles war still. Man hörte den Wind in den Baumwipfeln rauschen.
»Was ist jetzt?« fragte Morgand. »Zamorra, was passiert?«
»Nichts«, sagte der Professor und hängte sein Amulett wieder um den Hals, schloß das Hemd. »Die Beschwörung war nicht stark genug, um den Geist aus dem Grab zu holen. Wir müssen es morgen öffnen, um zu erfahren, was sich darin verbirgt.«
Raoul Morgand lachte höhnisch auf. Er schlug sich auf die Schenkel.
»Das ist vielleicht ein Ding! Jetzt weiß ich aber nicht, was ich sagen soll. Der ganze Hokuspokus war also für nichts und wieder nichts. Der Geist hat Ihnen was gepfiffen, Professor. Sehr weit scheint es mit Ihrer Beschwörungskunst nicht her zu sein.«
»Machen Sie es doch besser, wenn Sie können«, sagte Zamorra.
»Der Dämon, mit dem wir es zu tun haben, ist sehr mächtig. Das wird eine beinharte Sache.«
Morgand schüttelte den Kopf und grinste. Nicole funkelte ihn wütend an, aber darauf reagierte er nicht. Bill Fleming fragte wegen seines ausgekugelten Armes an. Zamorra zog ihm die Lederjacke aus.
Er betastete das Schultergelenk.
»Das haben wir gleich, Bill. Beiß die Zähne zusammen.«
»Glaubst du, du kannst das hinkriegen, Zamorra?«
Statt eine Antwort zu geben, schloß Zamorra seine Hände wie Schraubstöcke um Bill Flemings Oberarm und Schulter. Er drehte den ausgekugelten Arm, ruckte. Es knackte, als die Kugel wieder in die Gelenkpfanne einrastete, und Bill Fleming stieß einen tierischen Schrei aus.
Der Schweiß trat ihm in dicken Tropfen aufs Gesicht. Er riß sich los.
»Hör bloß auf! Ich gehe lieber zu einem Orthopäden.«
»Weshalb?« fragte Zamorra. »Es ist alles in Ordnung.«
Bill Fleming bewegte probehalber seinen rechten Arm. Dann grinste er.
»Tatsächlich. Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil. Zamorra, du bist der Größte!«
»Paß nächstens besser auf, wenn du eiskalte Händchen schüttelst, Bill.«
Alain Faber, der Friedhofswächter und Totengräber, schloß nun endlich den Mund. Er bekreuzigte sich mehrmals.
»So etwas, nein, so etwas, so etwas habe ich mein Lebtag noch nicht erlebt«, stammelte er ein ums andere Mal.
Die vier Männer und das Mädchen verließen jetzt den Friedhof.
Raoul Morgand ging ein paar Schritte hinter Zamorra. Er glaubte, jetzt endgültig klarzusehen. Zamorras gesamte Macht über Geister und Dämonen ruhte in seinem magischen Amulett. Diesen Talisman wollte Morgand haben, koste es, was es wolle.
Er würde ihn Zamorra abnehmen. Dann war er der Meister des Übersinnlichen, der Herr über die Geisterwelt. In Raoul Morgands skrupellosem und verschlagenem Gehirn begann sich ein Plan zu formen.
***
Beim Abendessen saßen Roger Defils und Paulette Martier an einem Ecktisch. Die beiden Gastzimmer waren gedrängt voll, aber für Roger und Paulette interessierte sich niemand. Die Einheimischen, allesamt Männer, wollten die andern Leute sehen, die wie Roger und
Weitere Kostenlose Bücher