0064 - Die Mühle der Toten
Paulette oben im Hotel wohnten.
Den großen Mann mit dem markanten Gesicht, der ein Professor sein sollte, seine bildhübsche Sekretärin und seinen Begleiter, einen Amerikaner. Auch jenem düster wirkenden Mann mit dem Hunnenbart, der am Nachmittag ein paar beiläufige Worte mit Roger gewechselt hatte, galt das allgemeine Interesse.
Diese vier Hotelgäste kamen aber nur kurz in die Gaststube, um ihre Zimmerschlüssel zu holen. Ihr Abendessen nahmen sie auf dem Zimmer ein.
Roger und Paulette merkten, daß in Bresteville etwas vorging. Sie waren Fremde, Ausgeschlossene. Ihnen sagte niemand etwas. Die Männer in ihrer Nähe flüsterten und warfen ab und zu mißtrauische Blicke zu den beiden herüber.
Keiner setzte sich zu ihnen an den Tisch, obwohl es da noch genug Platz gab und sich anderswo die Gäste zusammendrängten. An dem runden Tisch beim Tresen saßen die Honoratioren, der Bürgermeister, der Oberlehrer, der Apotheker und andere.
Roger und Paulette, die keinen in Bresteville kannten, wußten das nicht.
»Was halten Sie von einem Abendspaziergang?« fragte Roger Defils das rothaarige Mädchen.
Paulette wollte sagen, daß sie müde sei und sich zurückziehen wolle. Die Fahrt von Paris mit dem Zug und zuletzt mit dem Bus war lang und anstrengend gewesen.
Aber etwas bewog Paulette, zu antworten: »Gern, ein guter Gedanke. Wollen wir hinunter an den Fluß gehen?«
»Einverstanden.«
Sie zahlten bei der Kellnerin und verließen das Gasthaushotel.
Draußen war es schon dunkel, und es wehte ein kalter Wind. Paulette trug eine helle Baskenmütze, ein modisches Halstuch und einen Übergangsmantel.
Pierre Defils hatte eine schwarze lange Jacke übergezogen und einen Hut aufgesetzt. Er trug einen langen weißen Schal lässig um den Hals geschlungen und wirkte wie eine schlechte Imitation von Alain Delon.
Wortlos gingen die beiden durchs Dorf, zur Charente hinunter. Sie wußten es nicht, aber etwas zog sie an wie ein Magnet die Nadeln.
Eine starke Kraft, die nicht von dieser Welt war.
Der bleiche – Schimmer des Mondes war hinter treibenden Wolken zu sehen. Düster und zerrissen erschienen ihre Konturen in seinem Licht. In den Pappeln zu beiden Seiten der Allee, die am Friedhof vorbei zum Fluß führte, rauschte der Wind.
Pierre Defils und Paulette Martier überquerten den Fluß auf der schmalen Steinbrücke. Am anderen Ufer erhob sich die Mühle. Sie war nicht beleuchtet, aber dennoch konnte man ihre Konturen genau erkennen.
Eine unheimliche Aura, ein Lichtschimmer, umgab die alte Mühle.
»Diese Mühle«, sagte Pierre Defils, der sonst so kesse junge Mann, in monotonem Tonfall. »Wir müssen sie uns ansehen.«
Paulette nickte nur. Ihr kam ebensowenig wie Roger in den Sinn, daß ihr Verhalten unnatürlich war.
Sie betraten die Mühle. Das Innere war von einem geisterhaften Zwielicht erhellt. Die Wendeltreppe, die am späten Nachmittag durch das Wirken des Dämons zusammengebrochen war, führte jetzt wieder nach oben.
Roger und Paulette bemerkten den Staub, den Moder und Zerfall der Ruine nicht. Ihnen war es, als befänden sie sich in einem zwar altertümlichen, aber tadellos instandgehaltenen Gebäude. Der Wind heulte um die Mühle. Sie hörten das Knarren der Mühlenflügel, die sich drehten.
Wie ein Stromstoß durchlief es den jungen Mann und das Mädchen. Sie nahmen andere Persönlichkeiten an. Die Persönlichkeiten von Leuten, die schon lange tot waren. Sogar ihre Sprache wirkte verändert.
Es war ein Französisch, wie man es noch vor der Revolution gesprochen hatte.
»Martin«, sagte das Mädchen, »endlich bist du gekommen. Ich habe schon gedacht, der Bucklige würde gar nicht mehr aus dem Haus gehen!«
»Er ist auf dem Markt in Angoulême«, sagte der junge Mann.
»Eine Weile mußt du schon noch bei ihm aushalten. Bis du genug auf die Seite gebracht hast, daß wir irgendwo einen neuen Anfang machen können.«
»Die Zeit ist so lang. Im Dorf wissen alle Bescheid. Irgendwann muß er es merken.«
»Armand? Nie. Für diesen Buckligen bist du ein reiner Engel, Yvette. Er würde nicht einmal dem Papst selbst glauben, wenn der etwas gegen dich sagte und einen heiligen Eid darauf schwörte.«
»Es ist nicht recht, daß wir ihn so hintergehen und auch noch bestehlen«, sagte das Mädchen. »Ich mag ihn nicht, ich habe ihn nie gemocht. Mein Vater hat mich überredet, daß ich ihn wegen seines Geldes heirate. Laß uns fortgehen, Martin, heute nacht noch!«
»Nein, es bleibt bei unserer
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