0066 - Ich folgte dem roten Wagen
er ein paar Mal in die Runde geblickt hatte, setzte er sich auf einen Felsblock und sah hinunter zu den beiden Flüssen. Etwas weiter links ging gerade die Sonne auf.
Averson stieß mich an.
»Los!«, hauchte er mir ins Ohr. »Jetzt wendet er uns doch den Rücken zu!«
Ich schüttelte den Kopf.
»No! Wir haben keine Beweise gegen ihn! Es ist schließlich nicht verboten, sich irgendwo einen Sonnenaufgang anzusehen! Er muss erst davon überzeugt sein, dass hier oben niemand außer ihm ist. Dann wird er zu der Tanne gehen und das Geld nehmen. Dann sieht die Sache schon ein bisschen besser für uns aus.«
Averson nickte. Er hatte meinen Gedankengang verstanden.
»Wo nur mein Junge ist?«, fragte er besorgt.
Er sprach so leise, dass ich ihm die Worte mehr von den Lippen ablesen musste, als ich sie hören konnte.
Der Kerl draußen auf dem Felsblock hatte Geduld. Er saß eine geschlagene Viertelstunde auf seinem steinernen Hocker, bevor er sich endlich erhob. Noch einmal sah er sich prüfend um. Dann flog seine Zigarette in hohem Bogen von den Felsen die Steilwand zu den beiden Flüssen hinab. Mit schnellen Schritten ging er zu der frei stehenden Tanne und bückte sich. Gierig riss er die Tasche auf und begann, das Geld zu zählen.
Ich schob mich langsam aus dem Gebüsch. Averson hielt mir die Zweige auseinander, und da ich Glück hatte, kam ich fast geräuschlos zwischen den Sträuchern hindurch.
Geduckt lief ich quer über die Felsplatte zu der sandigen Stelle, wo die Tanne Wurzeln geschlagen hatte. Als ich etwa drei Yards von ihm entfernt war, warf sich der Gangster herum.
Er starrte mich so verdutzt an, dass ich schneller bei ihm war, als er zu reagieren vermochte. Da sich unter seinem Jackett die Ausbeulungen eines Schulterhalfters abzeichnete, riss ich ihm mit einem Griff die Pistole heraus und schleuderte sie in die Richtung zurück, in der Averson jetzt ebenfalls aus den Büschen kam.
Als ich die Pistole warf, erwachte der Gangster aus seiner Erstarrung. Er holte aus, und ich konnte mich nicht mehr rechtzeitig aus seiner Schlagrichtung werfen. Seine Faust dröhnte mir an den linken Unterkiefer, dass ich ein paar Schritte zurücktaumelte.
Er setzte sofort nach. Ich ließ mich in einer weichen Rolle sanft nach hinten fallen und zog die Knie an den Unterleib.
Als er sich auf mich warf, drückte ich ihn mit den Knien zurück, während ich gleichzeitig seine Jackettaufschläge fasste und ihn in einen Schwung nach links brachte. Ich warf meinen Körper nach, und jetzt lag er unten und ich kniete auf seinem Oberkörper.
»Du verdammter Hund!«, keuchte er und versuchte, mir einen Magenhaken zu versetzen.
»Nicht aufregen«, sagte ich und drehte ihm die Faust weg.
Ich stand auf, ohne sein verdrehtes Armgelenk loszulassen.
»Komm«, sagte ich, »steh schon auf.«
Er tat es schließlich, weil ich ein bisschen nachhalf.
Inzwischen war Averson herangekommen. Er atmete heftig und hätte sich fast auf den Gangster gestürzt, wenn ich ihn nicht durch einen scharfen Blick zurechtgewiesen hätte.
»Sie bleiben hier, Mr. Averson«, sagte ich. »Ich werde mit diesem ehrenwerten Mister mal ein paar Schritte in den Wald hineingehen…«
Ich sah, wie es in den Augen des Gangsters flatterte vor Angst. Die Augen der entführten Kinder mussten ähnlich geblickt haben.
»Was wollen Sie von mir?«, fing er plötzlich an zu wimmern. »Ich habe nichts getan! Ich wollte den Sonnenaufgang hier beobachten! Ich…«
»Du wirst Sterne sehen, mein Lieber«, sagte ich knapp. »Komm!«
Ich hatte ihn mit dem alten Polizeigriff gepackt. Mehr gestoßen als freiwillig stolperte er vor mir her. Die Furcht saß ihm in allen Gliedern.
Dabei war es eine grundlose Furcht. Kein echter G-man wird je einen wehrlosen Gefangenen prügeln oder gar foltern. Trotzdem erfinden sensationshungrige Zeitungsschreiber immer wieder das Märchen vom Dritten Gradl Und manchmal kommt es uns sogar zugute, dass wir derart verleumdet werden: Manche Gangster werden von einer bloßen Drohung, die nie in die Tat umgesetzt würde, schwach und verraten ihre Kumpanen, weil alle Gangsternaturen im Grunde feige sind. Der Bursche, den ich mir gegriffen hatte, bildete keine Ausnahme.
***
Wir stolperten durch den anbrechenden Morgen. Plötzlich war hinter mir ein Schrei, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war ein Schrei, der jenseits jeder Artikulierung lag.
Ich drehte mich schnell um. Von Averson war nichts zu sehen. Ich riss den Gangster mit mir
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