0068 - Die Geisternacht
ziemlich sicher, dass er die Antwort in Mexiko-Stadt nicht finden würde. Aber morgen, in Sacromonte, mochte das schon ganz anders aussehen.
***
Lange Zeit fand Professor Zamorra keinen Schlaf in dieser Nacht.
Die Geschehnisse des Tages gingen ihm nicht aus dem Kopf. Der Gedanke, hier in eine mysteriöse Angelegenheit verstrickt zu werden, ja, sich sogar schon mitten drin zu befinden, überschattete alle anderen Überlegungen.
Tezcatlipoca… Die Jünger des Schrecklichen … Was waren das für Menschen? Eine Sekte, die den entsetzlichen Glauben an die blutgierigen Götter der alten Azteken Wiederaufleben lassen wollte? Fanatiker? Religiöse Wirrköpfe? Erst kürzlich waren er selbst und Nicole in die unseligen Schlingen solcher Götzendiener geraten. Dabei hatte es sich jedoch nicht um mittelamerikanische, sondern um persische, genauer um medische Götter gehandelt. Wenn Bill nicht gewesen wäre, würden sie jetzt wohl beide nicht mehr leben. [1] Und nun …
Er grübelte weiter, versuchte ein Bild aus den Mosaiksteinchen zu formen, die ihm bisher bekannt waren.
Schließlich schlief er doch ein. Aber seine Sinne ruhten nur ganz knapp unter der Bewusstseinsschwelle. Er war deshalb sofort wach, als er das Geräusch hörte.
Schnell setzte er sich auf, zog an der Schnur, die die Nachttischlampe aktivierte.
Nichts war zu sehen. Und doch glaubte er nicht, sich getäuscht zu haben. Da waren mehrere Geräusche gewesen. Zuerst ein schleichendes Tapsen, dann ein ganz leiser, unterdrückter Aufschrei.
Zamorra sprang aus dem Bett, ging zum Fenster. Hatte hier die Geräuschquelle gelegen? Er schob den Tüllvorhang zur Seite, öffnete die Fenstertür und trat hinaus auf den kleinen Balkon.
Er trug eine Pyjamajacke, die am Hals offen stand. Drückende Schwüle schlug ihm entgegen, kaum gemildert durch einen warmen, aber recht kräftigen Wind. Sein Zimmer lag im zweiten Stock des Hotels, unmittelbar über dem Hotelgarten. In der Ferne blinkten die Lichter der Straßenlaternen und zahlreicher Häuser. Die typischen Geräusche einer Großstadt strömten gedämpft auf ihn ein.
Aber diese waren es nicht gewesen, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatten.
Sein Blick wanderte an der Hauswand entlang. Das Fenster unmittelbar neben dem seinen stand offen. Der Wind spielte mit dem Vorhang, bauschte ihn auf wie einen Luftballon.
Er stutzte. Dieses Fenster gehörte zu Nicoles Zimmer, das von dem seinen durch eine große Schiebetür getrennt war.
Hatte sie vor dem Zubettgehen vergessen, das Fenster zu schließen? Kaum jemand schlief hier bei offenem Fenster. Die moderne Klimaanlage regelte das Frischluftproblem viel besser, als dies die Natur vermocht hätte.
Sein Misstrauen war erwacht. Durchaus möglich, dass die Schritte und das erstickte Stöhnen aus ihrem Zimmer gekommen waren.
Eine plötzliche Angst um die Freundin fuhr ihm in alle Glieder.
Aber sie lähmte ihn nicht, spornte ihn vielmehr zu sofortigem Handeln an.
Mit einem Satz war er an der Verbindungstür, riss die beiden Flügel auseinander. Das Licht seiner Nachttischlampe erhellte ihr Zimmer nur sehr undeutlich. Und doch merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. In Umrissen sah er die Bettdecke. Sie war aufgewühlt, lag am Fußende des Bettes.
Schnell trat er näher. Kein Zweifel – das Bett war leer.
Nun war natürlich möglich, dass sie ein menschliches Rühren verspürt hatte. Aber das ließ sich leicht feststellen.
»Nicole!«, rief er energisch.
Keine Antwort! Statt dessen aber…
Er stand ganz still, hielt die Luft an.
Ja, er hatte sich nicht geirrt. Atemzüge! Unterdrückt und kaum hörbar, aber doch nicht zu verwechseln.
Sie kamen von links, von dort, wo der Kleiderschrank stand.
Zamorra spannte die Muskeln an, schnellte in die verdächtige Richtung. Zwischen Schrank und Fensterwand gab es eine Lücke, breit genug, um auch einer kräftigen Männergestalt als Versteck zu dienen.
Er sah ihn – sah sie – sofort. Diffus wie die Beleuchtung auch war, Zamorra hatte hervorragende Augen.
Er war es. Der Jünger des Schrecklichen… Der Mann mit dem rauchenden Spiegel. Eng an die Wand gepresst stand er da. Und in seinen Armen hing eine bewegungslose, schlaffe Gestalt, mit herunterhängenden Armen und auf die Brust gesunkenem Kopf.
Nicole!
Das Gefühlsspektrum des Professors orientierte sich zum roten Ende hin. Wut, helllodernde Wut bestimmte sein Handeln.
Mit einem Knurren, das ihm normalerweise selbst fremd vorgekommen wäre, stürzte er sich auf den
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