0079 - Der Tyrann von Venedig
keine Verstärkeranlage, um gegen die Lärmkulisse anzukommen. Er übertönte das Dröhnen der Motorboote in den größeren Kanälen und das Stimmengewirr auf den Plätzen, an denen wir vorbei fuhren.
Unter anderen Umständen hätte ich seinen Vortrag genossen. Jetzt kam er mir denkbar ungelegen, verdeckte er doch jedes andere Geräusch. Ich würde nicht einmal hören, ob sich jemand mit einem Schrei auf mich stürzte oder nicht.
»Nervensäge«, zischte Jane und meinte damit Joe Tarrant, der am lautesten nach jedem Lied applaudierte.
»Ich denke, er gefällt dir so«, zog ich sie auf. »Du schwärmst für ihn. Der Traum deiner Jungmädchennächte!«
Sie schoß mir einen vielsagenden Blick zu und verzichtete auf eine Widerrede, weil der Sänger ›O sole mio‹ anstimmte. Die Passanten, meist Touristen, drängten sich am Ufer und spendeten donnernden Beifall, als das Lied zu Ende war.
Unsere Gondolieri zündeten bunte Lampions an und hängten sie an Stäbe an Bug und Heck. Dennoch wollte uns der Zauber dieser Fahrt nicht ergreifen. Ich wartete nicht nur auf einen Angriff durch Antonio Gianelli oder den Schwarzen Dogen persönlich. Ich mußte auch herausfinden, bei welcher Gelegenheit die Venedigreisenden verschwunden waren. Außerdem waren da noch die zahlreichen Vermißten, über die Commissario Bennato geklagt hatte. Es gab bestimmt einen Zusammenhang und ich mußte ihn finden!
Etwa zwanzig Minuten später stutzte ich. Wir hatten die belebten Gebiete der Stadt hinter uns gelassen. Zu beiden Seiten des Kanals stiegen die Hauswände direkt aus dem Wasser. Es gab keine Gehwege mehr unmittelbar am Wasser.
Der Verputz bröckelte von den Häusern in großen Flächen ab. Abwasserrohre mündeten vor unseren Augen in die Wasserstraße. Mit einem leisen Aufschrei drückte sich Jane an mich und deutete auf eine große, fette Ratte, die auf einem Mauervorsprung hockte und zu uns herüberstarrte.
Shao warf sich Suko schluchzend an die Brust und barg das Gesicht an seinem Hals. Ich konnte das Mädchen gut verstehen. Ratten erinnerten sie an die grauenhaften Umstände, unter denen sie Suko in ihrer Heimatstadt Hongkong kennengelernt hatte. Ihr Vater hatte sich dem Gelben Satan verschrieben, dessen Vorboten und Helfer Ratten gewesen waren. Tausende von Ratten!
»Ich möchte wissen, warum wir ausgerechnet hier fahren«, murmelte ich. »Jede Stadt hat ihre Schattenseiten. Die braucht uns dieser aufgeblasene Tarrant doch nicht unbedingt zu zeigen!«
»Ich kann mir auch nicht vorstellen, daß dieser Kanal zu dem normalen Programm gehört«, flüsterte Jane.
Jetzt war ich doppelt wachsam. Es war eine hervorragende Gegend für einen Überfall, kaum Licht, keine Zeugen!
Doch es geschah nichts. Joe Tarrants Gondel fuhr an der Spitze unseres Zuges. Tarrant war zu weit weg, als ich ihn unauffällig hätte befragen können. Und nach ihm rufen wollte ich nicht, um die anderen Reisenden nicht zu ängstigen.
Noch immer blieb es ruhig. Zu beiden Seiten erhoben sich jetzt unbewohnte Gebäude. Bei den meisten waren Fenster und Türen mit Brettern zugenagelt. Ein trister Anblick!
Plötzlich lief mit eine Gänsehaut über den Rücken. Ich fröstelte und blickte mich hastig um, weil ich das Gefühl hatte, von glühenden Augen verzehrend angestarrt zu werden. Suko, Jane und Shao erging es offenbar genauso, denn auch sie richteten sich erstaunt und unangenehm berührt auf.
Es war zu dunkel, um die Reaktionen unserer Mitreisenden zu beobachten. Ich glaubte jedoch, die Angst greifen zu können.
Ein Blick zu unserem Gondoliere beruhigte mich einigermaßen. Er stand aufrecht am Heck und ruderte, als wäre nichts vorgefallen.
Zwei Minuten später bogen wir in einen Hauptkanal. Ich orientierte mich. Wir waren in der Nähe des Arsenals von Venedig. Hier pulsierte wieder Leben durch die Straßen. Licht von Laternen und aus den Häusern vertrieb die düsteren Gedanken.
Prompt schmetterte auch wieder unser Tenor los, als wäre nichts passiert. Die heile Touristenwelt!
Aber ich traute dem Frieden nicht. Bestimmt bereitete der Schwarze Doge schon den nächsten Schlag vor. Die Frage war nur, wann er uns treffen würde.
***
Ich war froh, daß Signora Gianelli nicht im Hotel auf mich wartete. Was hätte ich ihr sagen sollen? Daß ihr Sohn versucht hatte, mich zu töten, daß es ihm beinahe gelungen wäre und daß er wieder geflohen war? Nicht gerade ermutigend.
Ganz ungeschoren kam ich jedoch nicht davon. Eine andere Frau wartete auf mich, eine
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