0086 - Das Floß der Verdammten
war.
»Weitersuchen«, gab Zamorra zurück. »Gleich morgen früh.«
»Vielleicht hat man die Männer schon auf einem der Schiffe entdeckt und aufgenommen.«
»Dann werden wir es heute Abend noch wissen«, erwiderte Zamorra. »Entweder aus den Nachrichten, oder aus den Spätausgaben der Zeitungen. Aber ich glaube nicht daran.«
»Warum nicht?«, fragte Nicole.
»Ich ahne einen Zusammenhang mit diesem Seeungeheuer. Ich kann es nicht erklären, aber ich bin der Meinung, dass dieses Unwesen etwas damit zu tun hat, dass wir keinen der Vermissten finden.«
Wie recht Zamorra damit hatte, sollte er erst Tage darauf erfahren.
Als er die Cessna nordwestlich von Guadeloupe wieder auf die Insel zulenkte, ahnte er nicht, dass erst vor wenigen Minuten das Floß der Männer darunter hergetrieben war.
Bis zu der Minute, als Ukupa Lupa wieder auftauchte.
***
Das Ungeheuer aus der Tiefe ließ sich viel Zeit. Es hatte das Floß mit seinen Opfern immer in Reichweite, immer in der Hand.
Manchmal schwamm es tief unter ihnen, manchmal hielt es sich in ihrem Rücken. Der mächtige Körper kroch wie eine Walze durchs Wasser, halb schwimmend, halb dahingetrieben von den natürlichen Bewegungen der See.
Plump und hässlich, hielt Ukupa sich stets unter der Oberfläche auf.
Nur manchmal, wenn er einige Meter höher kam, schien die See sich aufzubäumen unter seinem gewaltigen Körper.
Niemand wusste, ob das Ungeheuer durch Lungen oder mit Hilfe von Kiemen atmete. Niemand hatte es jemals ganz auftauchen sehen. Niemand konnte es vollkommen beschreiben.
Nur die Kraft dieser gigantischen Arme war bekannt. Die Furcht, die allein seine Krallen einflößten.
Das Untier trieb als riesiges Bündel aus Fleisch und Haut und Sehnen dahin. Seine Augen, blutleer und glasig, von der Größe eines mittleren Bullauges, durchstachen das Wasser mit bösartigen Blicken. Die Opfer waren nah. Ukupa hatte Zeit, viel Zeit.
Er wollte die Männer auf die Probe stellen.
Er würde ihnen zeigen, wo sie landen konnten. Auf einer Insel, die der Kapitän der gesunkenen Gran Caribe kannte. Auf der Insel, wo sich Henk Barber das geholt hatte, was sich einmal in seinem Seesack befand.
Ukupa wollte wissen, ob Barber oder die anderen die Insel betreten würden.
Sie sollten Wasser haben, sie sollten Vogeleier sammeln können. Aber wenn sie tauchten, um das alte Wrack zu finden, würde es um sie geschehen sein.
Dann wäre die Stunde da, um endgültig loszuschlagen.
Noch ließ er das Floß dahintreiben. Noch war die Richtung gut für seine Pläne.
Erst gegen Mittag griff er ein. Langsam kam er aus der Tiefe herauf, ruderte ungelenk bis unter das Floß.
Die Männer hatten fast alle Hoffnung aufgegeben. In der ersten Morgenstunde vor Sonnenaufgang hatte Papas Magaya das letzte Wasser verteilt.
Schon nach zehn Uhr war die Sonnenhitze unerträglich. Ihre Strahlen brachen sich auf dem Wasser, reflektierten die gewaltige Hitze, brachten das Salz zum Verdampfen.
Und die Adern der Männer kochten, und das Blut wurde immer schwerer, die Augen brannten den Männern wie Feuer.
Die Atemnot wuchs von Minute zu Minute. Die letzte Flüssigkeit war aus ihren Körpern geronnen. Jetzt waren sie ausgedörrt wie zähes Fleisch. Sie konnten nicht einmal mehr schwitzen. Es gab nichts mehr in ihnen, das sich zu Schweiß auflösen konnte.
Trocken, ausgemergelt Zunge und Körper.
Die Hitze dörrte ihre Lippen aus. Die gischtenden Spritzer der Wellen schlugen ihnen das salzige Wasser über Gesicht und Körper. Die winzig kleinen Salzkristalle setzten sich in den Poren fest, verbrannten die Haut, wenn sie vom Sonnenbrand erhitzt wurden.
Mittag. Mittag auf einem Floß im Atlantik. Ohne einen Tropfen Trinkwasser. Mit Mägen, die sich vom tagelangen Hunger aufbäumten.
Stunden wie zäh dahinfließendes Pech. Zeit, lang wie geschmolzener, dick dahinfließender Gummi.
Die Hitze und das kochende Salz der See.
Der Hunger und der Durst, der mörderische Durst.
Sechs harte Männer, weich gemacht unter diesen höllischen Bedingungen. Träge dahingestreckt auf dem Floß. Mit Gedanken an Tod und ewige Martern. Mit Furcht vor dem Ertrinken wie vor dem Verdursten. Sie wussten nicht, was schlimmer war.
Sie fragten nichts mehr und sagten kaum ein Wort.
Und nirgends ein Motorengeräusch. Nirgends ein Flugzeug, das sich näherte und nach ihnen suchte.
Auf der ganzen Weite des Ozeans kein Rauchzeichen. Nicht ein einziges Schiff. Nicht eine kleine Nussschale von einem Motorboot oder Frachter,
Weitere Kostenlose Bücher