0087 - Schrei, wenn dich die Schatten fressen!
der Teufel fuhr Suko durch London. Er hatte es mehr als eilig. Denn noch immer klangen die Worte in seinem Ohr, die Mary Selnick ihm gesagt hatte.
Ihr Mann hatte, kurz bevor er starb, ein Testament hinterlassen. Und in diesem Schriftstück alles aufgezeichnet, was für sein weiteres ›Leben‹ nach dem Tod erforderlich war.
»Ich habe den Umschlag noch nicht geöffnet«, sagte Mary. »Er ist versiegelt.«
»Sie erlauben, daß ich ihn öffne?« fragte Suko.
»Bitte.«
Nach diesem Wort zählte für den Chinesen jede Sekunde. Er hatte sich bestimmt schon einige Strafzettel wegen seiner ungebührlichen Fahrerei eingehandelt, doch das war egal. Hauptsache, er schaffte es noch.
Suko telefonierte während der Fahrt mit Sir Powell. Er unterrichtete den Superintendenten in Stichworten von dem geschehen der vergangenen Stunden.
Sir Powell konnte auch nicht helfen. Mit einem Großeinsatz von Polizisten war hier nichts zu machen. Jetzt zählten Geschick, Entschlossenheit und natürlich auch Glück.
Letzteres sogar am meisten.
Mary Selnick sagte nichts mehr. Sie wurde von Suko Fahrerei sehr mitgenommen. Nahezu verschüchtert saß sie auf dem Beifahrersitz und schaute nur geradeaus.
Endlich waren sie am Ziel.
Suko fand keinen Parkplatz, sondern fuhr den Bentley mit der Schnauze auf den Bürgersteig. Er stand schon draußen, als Mary erst die Wagentür aufstieß.
Überrascht blieben einige Passanten stehen.
»Den Schlüssel, schnell!« rief Suko.
Mary warf ihm das Bund zu, und Suko fing es auf. Er öffnete die Haustür und sprintete die Treppen hoch. Am Klingelbrett hatte er gesehen, in welch einem Stockwerk Mary Selnick wohnte.
Suko war auch als erster in der Wohnung. Er stand im Livingroom und schaute sich um.
Schweratmend kam Mary an. Sie deutete auf einen schäbigen Wohnzimmerschrank. »Dort ist es. Die linke Tür!«
Der Chinese riß sie auf.
Sofort sah er den braunen Umschlag mit dem roten Siegel. Hastig zerfetzte Suko das Siegel, drehte den Umschlag auf den Kopf und schüttelte ihn.
Einige eng beschriftete Papiere flogen heraus. Zwei fielen zu Boden, die anderen fing Suko auf.
Er las.
Seine Augen wurden groß, denn der Zufall wollte es, daß der Chinese die richtige Seite erwischt hatte…
***
Ich legte all meine Körperkraft hinter den Wurf. Und das war, weiß Gott, nicht wenig.
Aber ich änderte die Richtung.
Noch in der Bewegung drehte ich die Spitze herum, so daß sie nicht mehr auf die am Boden liegende Jane Collins zeigte, sondern auf den Spuk.
Die Waffe raste ihm entgegen.
Die nächsten Sekunden erlebte ich wie in einem Zeitlupenfilm: Ich rechnete damit, daß die Lanze den Dämon durchbohren würde und wandte mich bereits ab, um auf Jane Collins zuzustürzen, da spielte der Spuk all seine magischen Fähigkeiten aus.
Im Bruchteil einer Sekunde verwandelte er sich.
Er wurde gestaltlos und zeigte wieder die Ansicht, wie auch auf der Erde.
Die Lanze raste hindurch.
Sie hämmerte in die Rückenlehne des Knochenthrons, wo sie knirschend steckenblieb.
Das alles bemerkte ich nur aus den Augenwinkeln, denn ehe sich die anderen versahen, hatte ich Jane Collins hochgewuchtet und über meine Schulter geworfen. Auf dem Absatz machte ich kehrt und rannte mit meiner Last davon.
Fünf Schritte kam ich weit. Dann gellte die Stimme des Spuks auf, und sie klang mir in den Ohren wie ein gewaltiger Donnerhall.
»Packt ihn!« brüllte er. »Hinterher!«
Und die Schatten gehorchten.
Die Reihen lichteten sich. Die Schatten wußten genau, was sie zu tun hatten.
Sie stellten es raffiniert an, teilten sich in vier Gruppen, um uns von allen Seiten in die Zange zu nehmen. Wir wurden keine Chance mehr haben.
Ich rannte verbissen weiter.
Zusätzlich war ich durch Janes Gewicht noch gehandicapt und kam deshalb nur halb so rasch voran. Zudem hatte ich die Befürchtung, daß der Spuk den Spieß umdrehen würde und mir die Lanze dann in den Rücken rammte.
Doch das hatte er nicht vor, er verließ sich auf seine Schattenmonster.
Und dann waren sie da.
Überall vor mir, neben mir, hinter mir. Sie heulten und jaulten, schlugen um, sich, krächzten und kicherten. Sie zerrten an meinen Haaren wischten mir durch das Gesicht, unten zwischen meinen Waden her und stürzten über mir und Jane Collins zusammen.
»Schrei, wenn dich die Schatten fressen!« brüllte der Spuk aus Leibeskräften und jagte mir damit einen Schauer nach dem anderen über den Rücken.
Ja, die Schatten würden uns fressen.
Gnadenlos, ohne
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