0088 - Der Guru aus dem Totenreich
der Schädel würde ihm zerspringen. Die Stimme wurde leiser. Einschmeichelnd fast.
»Sadhu Shandri… Du bist den Weg gegangen, den die Götter dir vorgeschrieben haben. Doch noch bist du nicht an seinem Ende angelangt, an dem die ewige Glückseligkeit deiner wartet. Nur eine letzte Prüfung noch, Sadhu Shandri. Eine allerletzte Prüfung. Ziehe nach Chhinwara und öffne dort mein Grab. Es ist ein Grab des Himmels… Ziehe mit den Göttern. Ich, Rudrasvin, werde dich sicher geleiten.«
»Ja, Herr. Du wirst mich sicher geleiten. Shandri ist dein Diener, Herr. Verfüge über ihn nach deinem göttlichen Willen…«
»Eile dich, Diener Shandri«, sagte die Stimme lockend im Inneren des Guru. »Eile dich, Diener Shandri. Benütze die Fortbewegungsmittel deiner Zeit. Setze dich in einen der Vögel aus Eisen und komme nach Chhinwara.«
»Ich komme, Herr.«
Als der Dämonenguru aus seiner Verzückung erwachte, war der Körper des Amerikaners verschwunden. An seiner Stelle lag ein Lederbeutel.
Sadhu Shandri öffnete ihn.
Glitzernde Edelsteine fielen in seine schmutzige kleine Hand.
***
Zamorra erwachte mit einem wilden Aufschrei. Das Amulett auf seiner Brust brannte wie die Hölle. Es leuchtete nicht mehr silbern, sondern gleißte strahlend, als wolle es ihn warnen.
Gehetzt sah der Dämonenjäger sich um. Sein Schlafraum lag noch so, wie er ihn in Erinnerung hatte. Es hatte sich nichts verändert.
Aber warum hatten die geheimnisvollen Kräfte des Medaillons ihn dann gewarnt?
Jetzt erst bemerkte er das Orgeln des Sturms, der die Grate und Kanten des zwölfstöckigen Hotelturms zum Heulen und Wimmern brachte. Er stürzte zum Fenster. Das Amulett strahlte nicht mehr. Es war kühl wie sonst auch. Zamorra riß die dichten schweren Samtvorhänge zur Seite.
Vor dem Fenster spielten die Elemente verrückt. Unter ihm flogen Palmwedel davon. Doch die doppelte Verglasung ließ außer dem Heulen kaum Geräusche in die Suite dringen.
»Chef!«
Zamorra fuhr herum. Er hatte nur eine Pyjamahose an. Im hellen Rechteck der Zwischentür stand Nicole in einem Nylon-Baby-Doll. Zamorra achtete nicht auf das, was der dünne Stoff ohnehin nicht verbarg. Nicole konnte nicht von seinem Schrei aufgewacht sein. Dazu war sie zu schnell an der Tür gewesen.
»Komm schnell, Chef. Es… es ist schrecklich. Von meinem Fenster aus… Ich…«
Zamorra war mit drei Sätzen bei ihr, drängte sie beiseite.
»Was ist los!«
Nicole Duval hastete voraus zum südlichen Fenster. Bei sonnigem und klarem Wetter reichte die Aussicht bis hinunter zum Palam International Airport.
Auch bis zum Verbrennungsplatz am Rama Krishna Puram…
Dann sah auch Professor Zamorra, was seine Mitarbeiterin und Geliebte so geängstigt hatte und was vermutlich auch sein Amulett aufglühen ließ, dessen Zauberkräfte Professor Zamorra immer wieder aufs neue überraschten.
Ein Drache, der sich über den Süden Delhis schwang! Das durfte es doch nicht geben!
Aber die Flugechse blieb. Das Zucken der Blitze und der immer noch niederprasselnde Regen schienen dem Wesen nichts auszumachen. Beständig stieg es auf, den tiefhängenden Wolkenballen entgegen, in denen es schließlich verschwand.
Zamorra rieb sich die Augen.
Flugechsen im 20. Jahrhundert. Es gab sie nicht. Aber Dämonen gab es. Niemand wußte das besser als Professor Zamorra. Er schaute hinaus in die sturmzerzauste Dunkelheit. Der Drache mit dem golden schimmernden Körper tauchte nicht wieder auf.
Zamorra schloß das Fenster. Sofort wurde es ruhiger im Raum. Nicole stand kreidebleich gegen die Wand gelehnt. Ihre hübschen Züge waren noch vom Grauen gezeichnet, das sie mit Urgewalt gepackt hatte. Doch langsam beruhigte sich ihr rasender Pulsschlag. Bei Zamorra war Schutz. Bei Zamorra war Geborgenheit. Sie flog ihrem Brotherrn und Geliebten in die Arme. Er drückte den bebenden Mädchenkörper fest an sich und streichelte Nicole sanft reibend an den Schultern. Sie mochte das und kuschelte sich noch enger an ihn.
»Wie hast du’s bemerkt?« fragte Zamorra. Er konnte nicht ewig so stehenbleiben.
»Ich bin vom Sturm wachgeworden«, antwortete Nicole. »Irgend etwas ist gegen das Fenster geklatscht.«
Zamorra sah hinüber. Er sah noch Pflanzenfasern an der Scheibe. Vermutlich hatte eine Sturmbö einen Palmwedel gegen das Fenster geschleudert.
»Und dann bist du aufgestanden und hast nachgeschaut?«
»Ja. Und dann, dann habe ich plötzlich dieses schreckliche Ding gesehen. War das eine Flugechse? Die gibt es
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