0088 - Der Guru aus dem Totenreich
zerstreut. Er dachte bereits an das, was vor ihm lag.
Er mußte einen kompetenten Mann finden, der ihm etwas über alte Göttersagen berichten konnte. Die Erfahrung hatte gezeigt, daß kaum neue Dämonen auftauchten. Fast alle hatten sie ihre Ursprünge in der Geschichte und in der Mythologie der Völker.
Normalerweise hätte er jetzt versucht, in der Universität einen bewanderten Kollegen aufzutreiben, doch es waren tatsächlich Semesterferien. Und wer immer es sich leisten konnte, verließ diesen Hexenkessel die heißeste Jahreszeit über, in der Mittagstemperaturen über 50 Grad keine Seltenheit waren.
»Und wohin jetzt?« fragte der Fahrer in Zamorras Gedankengang hinein.
Professor Zamorra schaute aus dem Seitenfenster. Links lagen die Gärten von Raj Ghat mit den zierlichen Haremsbauten, in denen zur Zeit der Großmoguln die bis zu fünfhundert Frauen des jeweiligen Fürsten untergebracht waren. Nicht mehr weit bis zur Altstadt. Im Norden tauchte schon die mächtige Sandsteinfassade des Red Fort auf, links davon die Silhouette der Jama Jasjid Moschee, die noch heute von Andersgläubigen nicht betreten werden darf.
Um sie herum war Delhi am dichtesten bevölkert. Auf den Quadratkilometer kamen bis zu 70 000 Menschen. In einem Ameisenhaufen hätte es nicht betriebsamer zugehen können. Straßenhändler bauten schon ihre Stände auf. Besitzer von Garküchen schoben ihre zweirädrigen Karren aus dunklen Torbögen und schürten die Feuer unter dem Kessel. Die Altstadt Delhis erwachte. Menschentrauben hingen an klapprigen Bussen, die ihre Fracht hinaus in die Vorstädte brachten, in denen die Fabriken lagen. Bettler packten ihre Blechschüsseln aus und machten sich auf die Suche nach der täglichen Handvoll Reis.
»Zur Jama Jasjid Moschee«, gab Professor Zamorra die neue Richtung an, und der Fahrer nickte. Trotz Zamorras und Nicoles Wortkargheit plauderte er munter weiter und erzählte jetzt von der Geschichte des Bauwerks. Das Leben hatte ihn gelehrt, daß Beharrlichkeit zum Ziel führt. Und sein Ziel war ein Trinkgeld.
»Wollen Sie einkaufen?« fragte er, als er in die enge Chadnag Road einbog, die in den weiten Platz vor der Moschee mündete. Er war durch sein Dauergehupe kaum zu verstehen. Doch anders wäre bei diesem Verkehr kein Durchkommen gewesen. Hier war schlagartig bereits alles auf den Beinen. Schon die ersten Sonnenstrahlen trieben die Menschen aus ihren unwürdigen Behausungen.
»Halten Sie auf dem Parkplatz vor der Moschee«, meinte Zamorra.
»Sie waren schon mal hier?«
Professor Zamorra ersparte sich eine Antwort. Der Taxifahrer schien sie beide für Touristen zu halten, die er an befreundete Händler weitervermitteln konnte, von denen er dann Provisionen kassierte.
»Ja«, antwortete Zamorra knapp. »Sie können mir jedoch trotzdem helfen.«
Im verstellten Rückspiegel sah Zamorra, daß die Miene des Fahrers sich aufhellte.
»Ich kann alles für Sie tun, Sir«, versprach der Sikh großzügig. Zu Beginn der Fahrt hatte er sich als Raleb Singh vorgestellt.
»Dann können Sie mich doch sicher auch zu einem Guru bringen. Zu einem weisen Mann.«
Raleb Singh strahlte.
»Natürlich kann ich das, Sir. Sie möchten wissen, wie es um Ihre Zukunft bestellt ist, nicht wahr? Ich kenne da einen vorzüglichen Astrologen. Und er arbeitet sogar noch ungeheuer billig. Für zweihundert Rupien erzählt er Ihnen alles.«
Zamorra glaubte das gerne. Einschlägige Betrüger gab es auch in Europa und in den Staaten zur Genüge.
»Ich hatte nicht nach einem Astrologen verlangt«, knurrte Zamorra ungnädig. Nach dem Erlebnis der Nacht wirkte die gute Laune des jungen Inders nicht ansteckend auf ihn. Dazu kam die Trauer um Graham Beckel. Zamorra glaubte nicht, für den Amerikaner noch etwas tun zu können. Wenn Dämonen zuschlagen, tun sie es gründlich.
Raleb Singh erzwang sich laut hupend einen Parkplatz vor dem monströsen Treppenaufgang zur Moschee und verscheuchte dabei einige Rikschafahrer. Die beugten sich widerspruchslos der Macht des Stärkeren und zogen, ohne die Mienen zu verziehen, ab.
Der Sikh drehte sich zu ihnen um und musterte Professor Zamorra jetzt mit anderen Augen. Ein forschender Ausdruck war in sie getreten.
»Sie sind kein Tourist«, stellte er schließlich fest.
»Ich habe das nie behauptet«, antwortete Zamorra. »Können Sie mir helfen oder können Sie’s nicht? Ich vertrödle nicht gerne meine Zeit. Notfalls kommen wir alleine genausogut zurecht.«
»Entschuldigen Sie, Sir«,
Weitere Kostenlose Bücher