0094 - Alle auf einen Schlag
»Stell dich mal mit dem Gesicht zum Sockel und gib mir Hilfestellung.«
Mein Freund sah mich überrascht an.
»Willst du hinauf?«
»Ja.«
»Warum?«
Ich zuckte die Achseln.
»Ich will mir die Sache nur mal aus der Nähe betrachten.«
Phil zuckte ebenfalls die Achseln, als ob er sagen wollte: Was gibt es da schon zu sehen? Aber er tat mir den Gefallen, stellte sich vor den knapp zwei Yards hohen Betonsockel. Ich ergriff seine Schultern, stieg mit dem linken Fuß in die Hände, zog mich an seinen Schultern hoch und setzte den rechten Fuß auf seine Schulter. Dann konnte ich mich verhältnismäßig einfach auf den Rand des Sockels schwingen.
Es war nicht allzu schwierig, in den Kreuz- und Querstreben des Stahlgerüsts hinaufzuklettern. Während ich so zwischen den Stahlschienen herumturnte, geriet auf einmal ein langer brauner Faden vor meine Augen.
Ich besah mir das Ding. Der Faden mochte ungefähr Handlänge haben und war stark gewellt, als ob er aus einem engmaschigen Gewebe stammt. Er hing zwischen zwei sich kreuzenden Streben. Ich stützte mich stärker auf die linke Hand, ließ die rechte los und riss den Faden ab. Behutsam schob ich ihn in meine Jackentasche.
Dann kletterte ich weiter. Bald hatte ich die Höhe erreicht, wo das Gerüst des Krans jetzt endete. Ich sah mich um. Bruchstellen, leicht aufgequollen. TNT entwickelte im Explosionsherd eine ganz anständige Temperatur.
Merkwürdig, dachte ich. Jede Strebe, jeder Träger ist wie mit dem Lineal genau in der gleichen Höhe abgeknickt. Das muss doch seine Gründe haben…
Well, es gab nichts weiter zu sehen. Ich kletterte wieder runter und stieg über Phils Schultern auf die Erde zurück.
»Na?«, fragte er.
Ich zeigte ihm den braunen Faden. Er besah ihn sich gründlich und sagte dann: »Von dem Marine-Sprengspezialisten kommt der Faden nicht. Die haben andere Uniformen.«
Ich steckte den Faden wieder ein.
»Komm«, sagte ich. »Ich möchte mal mit dem Kapitän reden.«
Wir gingen über das Fallreep an Bord. An der Reling lehnte ein grauhaariger Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Er hatte die wasserhellen Augen mit dem weiten Blick eines Mannes, der unendliche Horizonte vor seinen Augen gewöhnt ist. Er trug einen dunkelblauen Rollkragenpullover und eine Pudelmütze.
»Wollt ihr zu mir?«, rief er uns an.
Ich tippte an die Hutkrempe.
»Wir suchen den Käptn.«
»Der bin ich. Ich heiße Rais, Samuel Rais.«
»Cotton und Decker vom FBI. Wir hätten gern ein paar Worte mit Ihnen gesprochen, Kapitän.«
»Sollen wir in meine Kajüte gehen oder können wir hier stehen bleiben?«
»Von mir aus können wir hierbleiben.«
Wir steckten uns Zigaretten an. Der Kapitän lehnte ab. Er biss ein gewaltiges Stück Kautabak von einer schwarzen Rolle ab und wälzte es genießerisch im Mund hin und her.
»Schöne Bescherung, was?«, knurrte er und deutete hinab auf den im Wasser verschwindenden Kahn.
»Kann man wohl sagen«, meinte ich. »Können Sie sich irgendeinen Grund dafür denken?«
Er sah uns mit gerunzelten Augenbrauen an.
»Moment«, sagte er. »Ihr kommt vom FBI. Und der Kran ist fachgerecht weggesprengt worden. Soll das heißen, das hier ein Verbrechen vorliegt?«
Wir zuckten die Achseln.
»Was soll es sonst sein? Ein unglücklicher Unfall kann es ja nicht sein, nicht wahr? Oder glauben Sie, dass jemand TNT in einem Krangerüst aufbewahren lässt und sich das Zeug dann plötzlich selbst entzündet? Ziemlich ausgeschlossen. TNT ist ein verhältnismäßig stoßsicherer Sprengstoff. Der muss regelrecht gezündet worden sein. Das kann ja wohl nur ein Verbrechen sein.«
»Neunschwänzige Satansbrut«, knurrte der Kapitän. »Nun möchte ich bloß wissen, wer ein Interesse daran haben soll, einen Kran in die Luft zu jagen? Ganz abgesehen davon, dass sie mir den Bug meines Schiffes demoliert haben. Es muss ins Dock. Das bedeutet Frachtausfall, Verdienstausfall, höhere Unkosten. Schöne Sauerei.«
»Sie können sich also nicht denken, wer ein Interesse an so einer unerklärlichen Tat haben könnte?«
Rais sah uns groß an.
»Bin ich Hellseher?«, knurrte er.
»Sie haben auch nichts Auffälliges beobachtet?«
»No. Absolutnichts. Obgleich ich seit sieben Uhr auf der Brücke stehe. Wir haben nämlich um sieben angefangen, die Fracht zu löschen.«
»Was haben Sie eigentlich geladen, Kapitän?«
»Ölsardinen aus Portugal, feinmechanische Werkzeuge aus Deutschland, ein paar französische Möbel, die ein paar Hundert Jahre alt sein
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