0094 - Das Grauen lauert in Soho
eine modebewußte Frau wie Nicole wußte zwar, daß Jade allenfalls schimmern, aber niemals glitzern konnte.
Doch dieses größte Auge funkelte förmlich in einem geheimnisvollen Feuer, obwohl die Höhlung keinen Stein enthielt. Nicole fand, daß es ausgesprochen bösartig glitzerte, und jedesmal, wenn sie sich aufs neue in seinen Anblick vertiefte, wiederholte sich dieses Kribbeln auf ihrer Haut. Es war jedoch kein angenehmes Gefühl.
Nicole fuhr hoch, als der Schlüssel im Schloß sperrte. Zamorra hatte sich an der Rezeption einen zweiten aushändigen lassen.
»Du siehst nicht gut aus, Chef«, sagte sie. »Die Ränder unter deinen Augen sind groß wie Spiegeleier.«
Professor Zamorra versuchte ein zaghaftes Grinsen. Es mißglückte. Die Sorgen standen ihm offen ins Gesicht geschrieben. Er nahm den Hut ab und warf ihn auf eines der breiten Betten. Nicole sprang auf und half ihm aus dem Mantel.
»Sind wir weitergekommen?« fragte sie.
»Hat Jake Brabham inzwischen ange rufen?« antwortete Zamorra mit einer Gegenfrage.
Nicole schüttelte den Kopf. »Der Apparat blieb den ganzen Nachmittag über stumm wie ein Fisch.«
Zamorra ließ sich in einen bequemen Sessel fallen und streckte die Beine weit von sich.
Sein Blick fiel auf die Statuette auf dem Spiegeltisch und seine Miene verhärtete sich noch mehr. »Auch an unserem Freund ist dir nichts weiter aufgefallen?«
»Nein«, antwortete Nicole. »Er ist mir lediglich unheimlich. Mir graust vor ihm, um ehrlich zu sein.«
»Mir auch«, meinte Zamorra. »Wenn das eintrifft, was ich befürchte, dann gnade uns Gott. Und dieser Stadt dazu.«
Nicole kauerte zu Füßen Zamorras nieder und begann, ihm die Knie zu streicheln. Das tat sie manchmal, wenn ihre Neugier ins Unermeßliche gestiegen war und sie ihrem Chef Informationen entlocken wollte.
»Okay, okay«, brummte Zamorra prompt. »Bisher war nur noch keine Zeit, um dir reinen Wein einzuschenken, mein Herz. Aber mittlerweile bin ich ohnehin nur zum Warten verdammt. Dann kann ich dir auch sagen, was ich über Sustra weiß. Es ist wenig genug.«
»So heißt unser Freund aus Jade?«
»Nur eine Abbildung von ihm. Das Amulett habe ich ihm hur für alle Fälle umgehängt. Die Figur ist über 4000 Jahre alt. Aber ich beginne wohl besser von vorne.«
»Es hängt mit dem Buch Chatelneau zusammen, nicht wahr?«
»Ja. Ein französischer Forscher dieses Namens hat im Jahr 1856 im Dschungel des heutigen Ostkambodscha unweit der vietnamesischen Grenze einen von Pflanzen überwucherten Tempel entdeckt. Damals wußte man von der Kultur der alten Khmer noch gar nichts. Man vermutete eher, daß die Bevölkerung einer neueren Stadt einer Seuche zum Opfer gefallen ist und ihre Stadt deshalb in Vergessenheit geriet. Auch reichten damals die technischen Mittel noch nicht hin, im Dschungel Ausgrabungen größeren Stils in Angriff zu nehmen, wie man das in Ägypten und zwischen Euphrat und Tigris bereits tat. Dazu kamen im Dschungel noch Gelbfieber und Malaria, die unter den Arbeitern erbarmungslos aufgeräumt hätten. Deshalb beschränkte sich François Chatelneau darauf, einige Funde mitzunehmen. Viel war es nicht. Doch es befanden sich drei Bücher unter ihnen. Dabei spreche ich nicht von Büchern im herkömmlichen Sinn. Es waren Rollen aus gegerbter Menschenhaut, aber auch das wußte Chatelneau noch nicht. Ein Exemplar der Bücher, die bis vor kürzester Zeit nicht entziffert werden konnten, ging verschollen, eines ersteigerte ich in Paris als Rarität, denn der tatsächliche Wert wurde erst bekannt, als die Schrift entziffert werden konnte. Das war vor drei Jahren. Eine Chatelneauabschrift hatte es nach den USA verschlagen, wo an der Seattle Mountain University Studenten ein Computerprogramm entwickelt hatten, das unter Zuhilfenahme vergleichender Häufigkeitsreihen alte Schriften entziffern sollte. Heraus kam dabei das Alphabet der alten Khmer. Eine komplette Übersetzung des Chatelneau-Buches, wurde meines Wissens nach nie geliefert. Aber ich habe eine angefertigt. Sie ist mehr oder weniger gelungen und natürlich mit einer Unmenge von Fehlern behaftet. Du kannst dir vorstellen, daß ich aus allen Wolken fiel, als Norna de Brainville mir letzte Nacht eine hektographierte Übersetzung in modernem Englisch vor die Nase setzte.«
Zamorra stand nach diesem Monolog auf und schenkte sich einen Drink ein.
Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, daß es auf sechs Uhr abends zuging. Draußen begann es bereits zu dunkeln.
»Und weiter?«
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