0099 - Hexennacht
Stimme kam aus den hinteren Reihen.
Sprachlos sah Harriet auf, blickte von einer zur anderen, sah die mordlüsternen Fratzen und hörte ungeduldiges Gurren.
»Geht, was wollt ihr von mir?« stammelte die Diva. »Ich habe euch nicht gerufen.«
Harriet bemerkte jetzt, wie die Eindringlinge die große Frau anstarrten.
»Radegonde, gib uns deine Befehle!« schrien sie. Sie verzogen die zahnlosen Mäuler zu einem Grinsen.
Die große Frau beugte sich über Harriet. Speichel troff aus der dunklen, übelriechenden Mundöffnung auf Harri ets nackten Körper nieder.
»Heute nacht wirst du eine von uns!« schmatzte sie. »Das ist unsere Rache an Eve Livermore.«
Warum kann ich mich nicht rühren? fragte sich Harriet. Warum läute ich nicht nach Gien Webster? Er trägt ständig eine Pistole bei sich. Er würde diesen Spuk verjagen… nein, er würde die Polizei verständigen.
Man würde diese unverschämten Weiber ins Gefängnis sperren, weil sie es gewagt haben, die große Harriet Gilbert zu belästigen.
»Ich warne euch«, keuchte sie, »geht endlich, sonst rufe ich meinen Sekretär.«
Die Eindringlinge schienen höchst amüsiert zu sein. Sie wiegten sich hin und her nach einer imaginären Melodie, klatschten in die Knochenhände — und plötzlich begriff Harriet, daß es sich nicht um Frauen handelte, sondern um Frauenskelette. Um Gespenster.
Diese Erkenntnis traf sie so schwer, daß ihr Herzschlag fast aussetzte.
Gespenster also?
»Du willst also deinen Sekretär rufen, Nachfahrin von Eve Livermore?« fragte Radegonde. Sie hielt jetzt ihre Hand über Harriets Kopf, preßte die Faust fest zusammen, dann öffnete sie sie.
Etwas fiel zwischen Harriets Gilberts nackte Brüste nieder. Entsetzt griff sie danach und hielt es hoch. Im Schein der matten Nachttischlampe erkannte sie eine Puppe. Eine winzige Puppe, gerade so groß, um in der Hand der großen Hexe Platz zu finden.
»Was… was ist das?« hauchte sie.
»Schau dir die Gestalt näher an«, empfahl Radegonde mit eisiger Stimme.
Zwei der Hexen hoben die Arme. Sie hatten Pechfackeln in den Händen.
Harriet Gilbert zitterte, als die Fackellichter aufzuckten.
»Schau näher hin«, befahl Radegonde.
Harriet griff nach der Puppe und betrachtete sie. Ein fernes Ahnen überkam sie. Deutlich erkannte sie das runde Gesicht, die kurz geschorenen blonden Haare und den Streifenanzug.
Genauso sieht Gien Webster, mein Sekretär, aus, dachte Harriet.
Sie blickte auf und bemerkte, wie zwei der Hexen sich über die roten Mäuler strichen.
Diese Puppe, fuhr Harriet in ihren Gedanken fort, ist eine naturgetreue Nachbildung von Gien.
»Erkennst du ihn?« verhörte Radegonde sie.
»Ja. Es ist eine Puppe, die so aussieht wie mein Sekretär!« erklärte Harriet ärgerlich. »Was soll das Ganze?«
»Er sieht nicht nur so aus«, flüsterte Radegonde. »Er ist es.«
»Er ist es«, wiederholte die Hexenschar. Die dürren Leiber waberten auf und ab.
»Er ist es?« Harriet setzte sich mit einem Ruck auf. »Wie könnt ihr so einen Unsinn sagen. Das ist eine Puppe. Mein Sekretär…«
»Er ist es. Wir haben ihm das Leben ausgesaugt. Wir haben ihm das Blut ausgetrunken!« Radegondes schrille Stimme peitschte auf die Diva nieder.
Harriet Gilberts Geist nahte der Grenze zur Idiotie. Es war unfaßbar und ungeheuerlich, was man ihr da weismachen wollte, und doch spürte sie tief in ihrem Innern, daß es stimmte.
Als sie das begriff, ließ sie die Puppe aus der Hand fallen, als könnte sie sich daran verbrennen. Der winzige Körper schlug auf ihrem Bauchnabel auf. Sie schrie und fegte ihn von sich.
»Geht. Ich will, daß ihr geht«, flüsterte sie, den Kopf verzweifelt hin- und herschüttelnd. »Ich ertrage euch nicht mehr. So geht doch. Ich bin nicht diese Eve…«
»Radegonde?« Die Meute zitterte vor Ungeduld. »Dein Befehl, Radegonde… zögere nicht länger…«
Das unheimliche Weib beugte sich über Harriet, drängte sie zurück in die liegende Stellung.
»Es gibt zwei Möglichkeiten für dich«, keuchte sie, »entweder du widerstrebst uns, dann ergeht es dir wie deinem Sekretär. Dann wirst du bald nur noch so winzig sein wie eine Puppe.«
»Nein«, flüsterte Harriet.
»Die zweite Möglichkeit ist gnädiger, aber sie bedeutet zweierlei: Erstens gehörst du dann zu uns, zu den Hexen von Boston. Ohne Ende, ohne Pause. Aber zweitens mußt du uns einen Tribut zollen für die Gnade, daß wir dich in unseren Reihen aufnehmen.«
Um Harriet drehte sich alles. Lieber Gott,
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