01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
Gefühlen angemessen haushalten. Und wenn das so aussieht, als würde ich sie wie Kartoffeln auswiegen, so ist das immer noch besser, als sie wie aus Wassereimern zu verschütten, wie du es getan hast.« Der Vergleich mit den Wassereimern mißfiel ihm nun wieder. »Wenn du so darüber denkst, sind wir für immer geschieden«, brüllte er und verließ das Zimmer. Im nächsten Moment war er wieder da und erklärte: »Hör zu – deine Einstellung zu Gefühlen ist grundfalsch. Gefühle haben nichts mit Angemessenheit zu tun. Allein ihre Aufrichtigkeit zählt. Ich habe damals sehr tief empfunden. Das habe ich gezeigt. Und es ist völlig belanglos, ob ich so tief hätte empfinden dürfen oder nicht.«
Seine Worte beeindruckten mich sehr. Dennoch konnte ich ihm nicht zustimmen und sagte, ich schätze Gefühle nicht weniger als er, nur würde ich anders mit ihnen umgehen; wenn ich ihnen schon bei kleinen Anlässen freien Lauf ließ, hätte ich Angst, bei größeren keine mehr übrig zu haben und in echten Lebenskrisen erst recht bankrott zu sein. Man beachte das Wort »bankrott«. Ich sprach als Vertreter einer haushälterischen Mittelstands-Nation, stets darauf bedacht, meinen Verpflichtungen nachzukommen. Mein Freund hingegen sprach als Orientale, der seine Ressourcen für unerschöpflich hält, genau wie John Bull seine als begrenzt betrachtet.
Und so enden Forsters Betrachtungen.
... Der englische Charakter ist auf eine Art unvollkommen, die gerade den ausländischen Beobachter abstößt. Sein äußerer Eindruck ist wenig einnehmend – selbstgefällig, teilnahmslos und reserviert. Dabei besitzt er ein reiches Gefühlsleben, nur macht er davon nie Gebrauch. Und er besitzt ebenso einen reichen Verstand, nur wird der eher dazu benutzt, bestehende Vorurteile zu bestätigen, anstatt sie zu zerstreuen. Solange dasso ist, wird der Engländer bei anderen wenig Sympathie wecken.
Doch ich wiederhole es noch einmal. Er ist ebensowenig durchtrieben wie gefühlskalt. Der Fehler liegt vielmehr in der äußeren Apparatur.
Ich hoffe und glaube fest daran, daß wir in den kommenden zwanzig Jahren [der Text wurde 1920 geschrieben] einschneidende Veränderungen erleben werden und sich unser Nationalcharakter in eine Richtung entwickelt, die ihn weniger einzigartig, aber um so sympathischer macht. Die Vorherrschaft des Mittelstandes geht augenscheinlich ihrem Ende entgegen. Noch läßt sich nicht sagen, welches neue Element die Arbeiterklasse mit einbringt, aber zumindest sind deren Vertreter nicht auf Public Schools erzogen worden ...
Die Nationen müssen einander verstehen lernen, und zwar schnell und ohne die vermittelnde Tätigkeit ihrer Regierungen, da wir durch das Zusammenschrumpfen des Globus unausweichlich aufeinander verwiesen sind. Zu dieser Verständigung wollen die vorliegenden Gedanken einen kleinen Beitrag leisten – als Anmerkungen zum englischen Charakter aus der Sicht eines Romanciers.
Und, haben wir »einschneidende Veränderungen« erlebt? Hat die Vorherrschaft des Mittelstandes ihr Ende gefunden? Einen Scheißdreck hat sie. Bis heute, mutatis mutandis , wird der englische Charakter vom Charakter ihres (nach wie vor wachsenden) Mittelstandes bestimmt, und bis heute wird der Charakter dieses Mittelstandes geprägt vom Charakter des (nach wie vor unverhältnismäßigen) Einflusses der Public-School-Absolventen. Die Schulen selbst haben sich natürlich verändert, nämlich in der Weise, daß die Schüler der Public Schools heute Baseballkappen und teure Nike-Schuhe tragen, Rap-Musik hören, am Ende eines Satzes mit der Stimme nach oben gehen, so wie sie es in australischen Seifenopern im Fernsehen aufgeschnappt haben, und ständig »cool« oder »mega« sagen. So unschön und peinlich das ist, an denGrundfesten ändert sich dadurch nichts. Niemand könnte ernsthaft behaupten, der durchschnittliche englische Public-School-Zögling verlasse die Schule mit einer South-Central-Los-Angeles-Sensibilität oder den Erwartungen, Einstellungen und dem Charakter eines arbeitslosen Punktschweißers aus der Arbeiterklasse. Körperlich ist er vermutlich noch fitter als früher, sein Verstand leidlich trainiert, aber sein Herz genauso unentwickelt. Die Briten haben immer kulturelle Einflüsse absorbiert, ohne dabei ihren Charakter zu verlieren. Schließlich haben auch Humphrey Lyttelton und seine Generation in den dreißiger Jahren schwarzen Jazz in Eton gehört und sich mit »Cat« oder »Daddy-o« angesprochen. Zu unserer Zeit
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