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01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend

Titel: 01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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den Augen fällt. Ich spreche hier aus eigener Erfahrung, wohlgemerkt, nicht als der über allen Dingen schwebende Dichter.
    Ich mochte zwar in vielen Dingen anders sein, aber ich wardennoch nie wirklich der sensible Außenseiter, der ausgestoßene Jude, die skandalöse Schwuchtel oder der distanzierte Intellektuelle, als der ich mich so gerne sah. Ich war nie ganz so intelligent, wie ich glaubte, nie ganz so schroff in meinem Protest gegen alles Konventionelle, nie ganz so entfremdet durch meine Sexualität und mir nie ganz so sicher, ob ich auch wirklich zum erlauchten Kreis der Künstler und Denker gehörte. Voller Ehrgeiz und Wissenshunger stürzte ich mich auf E. M. Forster. Ich sammelte seine Erstausgaben nicht weniger enthusiastisch als die von Norman Douglas. Die berühmte Passage aus seiner Feder, die über all diesen Ausführungen schwebt, verdient es daher, hier nahezu ungekürzt wiedergegeben zu werden. Sie entstammt seinen »Anmerkungen zum englischen Charakter«, dem Eröffnungsessay aus der Sammlung Abinger Harvest von 1936, in der sich auch die Texte über Roger Fry und Firbank finden.
    In Erste Anmerkung geht es darum, daß der englische Charakter seinem Wesen nach bürgerlich ist. Nach einem kurzen historischen Exkurs, warum diese Feststellung zutrifft, fährt Forster fort:
    Gründlichkeit, Vorsicht, Rechtschaffenheit, Tüchtigkeit. Ein Mangel an Einbildungskraft, Heuchelei. In allen Ländern gehören diese Eigenschaften zu den Kennzeichen des Mittelstands, nur in England sind sie gleichzeitig auch nationale Charakteristika, weil nur in England der Mittelstand seit einhundertfünfzig Jahren an der Macht ist. Napoleon nannte uns in seiner unwirschen Art »eine Nation von Krämern«. Wir dagegen ziehen es vor, uns als »eine große Handelsnation« zu sehen – was gediegener klingt, letztendlich aber auf dasselbe hinausläuft.
    Die Zweite Anmerkung enthält die berühmte Wendung vom »unentwickelten Herzen«.
    So wie der Mittelstand das Herz Englands ist, so ist das Herz des Mittelstands das System der Public Schools ... Es ist das genaueAbbild dieses Charakters – sehr viel genauer beispielsweise als die Universitäten, in die längst unterschiedliche gesellschaftliche und geistige Einflüsse Zugang gefunden haben. Mit seinen Internatsgebäuden, seinen vorgeschriebenen Mannschaftsspielen, seinem System der Präfekten und Diener, seiner Wertschätzung von körperlicher Fitness und esprit de corps produziert es einen Menschentypus, dessen gesellschaftliches Gewicht in keinerlei Verhältnis zu seiner zahlenmäßigen Stärke steht ...
    Und so ziehen sie [die Abgänger der Public Schools] hinaus in eine Welt, die keineswegs ausschließlich aus Public-School-Zöglingen oder auch nur Angelsachsen besteht, sondern aus Männern, die so verschieden sind wie der Sand der Meere; in eine Welt, von deren Reichtümern und Freiheiten sie nicht die geringste Vorstellung haben. Sie ziehen in sie hinaus mit gut trainierten Körpern, einem halbwegs trainierten Geist und unentwickelten Herzen ... Einem unentwickelten Herzen, wohlgemerkt, keinem kalten. Der Unterschied ist durchaus bedeutsam ...
    Vor vielen Jahren (dies ist eine Anekdote) machte ich in Begleitung eines indischen Freundes Ferien auf dem Kontinent. Wir hatten viel Spaß miteinander und waren traurig, als die Woche vorüber war, doch war unser Verhalten beim Abschied grundverschieden. Mein Freund war zu Tode betrübt ... Ich verstand nicht, wieso er soviel Aufhebens darum machte, und sagte: »Na los, reiß dich zusammen.« Aber er wollte sich nicht zusammenreißen, und ich ließ ihn in tiefer Trübsal zurück.
    Der Schluß der Anekdote ist allerdings noch weitaus interessanter. Denn als wir uns einen Monat später wiedersahen, gewährte unsere Unterhaltung einen tiefen Einblick in den englischen Charakter. Zunächst überfiel ich meinen Freund mit Vorwürfen. Ich erklärte ihm, es sei nicht recht gewesen, sich aus so unerheblichem Anlaß derart gehenzulassen und seine Emotionen zu zeigen; er habe sich unangemessen verhalten. Das Wort »unangemessen« brachte ihn in Rage. »Wie bitte?« rief er laut. »Wiegst du deine Emotionen etwa aus wie ein Pfund Kartoffeln?« Der Vergleich mit den Kartoffeln mißfiel mir, abernach kurzer Überlegung erwiderte ich: »Genauso ist es; und ich denke sogar, so sollte es auch sein. Ein geringfügiger Anlaß verlangt nach wenig Gefühl, genau wie große Gefühle einen großen Anlaß voraussetzen. Ich möchte mit meinen

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