01 Columbus war ein Engländer: Geschichte einer Jugend
unerschütterlichen Gleichmut entgegen.
Die Ferien über waren wir unzertrennlich gewesen, was sich an der Schule selbstredend ändern würde. Natürlich hatte es den üblichen Bruderzwist gegeben (ich erinnere mich noch, wie ich einmal einen Dartpfeil nach ihm geworfen hatte: allein bei der Vorstellung, wie das Teil in seinem Knie gesteckt hatte, wird mir heute noch schlecht), aber rückblickend kann ich nur staunen, mit wieviel Erfindungsgabe wir unsere Ferien an einem Ort am Arsch der Welt über die Runden brachten. Wir befanden uns in der gleichen mißlichen Lage wie Reverend Sydney Smith, der, nachdem es ihn aufs Land verschlagen hatte, einem Freund schrieb, er könne seine Situation am treffendsten mit den Worten beschreiben, »meilenweit von der nächsten Zitrone« entfernt zu sein. Sydney Smith ist im übrigen nur zu empfehlen, er besitzt einen einzigartig geistreichen, skurrilen und erfrischenden Witz und Verstand. Über eine Begegnung mit Daniel Webster beispielsweise sagte er, er habe ihn »stark an eine Dampfmaschine in Hosen« erinnert, und bei einer Soiree soll er sich einer Dame mit den Worten vorgestellt haben:
»Madame, wie lange schon suche ich nach einem Menschen mit einer Abneigung gegen Bratensoße; lassen Sie uns ewige Freundschaft schwören.« Nun, Roger und ich befanden uns nicht nur meilenweit entfernt von der nächsten Zitrone, sondern auch meilenweit entfernt vom nächsten Café, dem nächsten Kino, dem nächsten Spielwarengeschäft, der nächsten Kegelbahn und dem nächsten Freund. Folglich mußten wir miteinander vorliebnehmen. Außerdem war da noch unsere Schwester Jo, im Sommer 1970 sechs Jahre alt, die mich grenzenlos bewunderte und mir alles glaubte. Ichoffenbarte ihr feierlich, ich könne fliegen und würde es ihr ebenfalls beibringen, sobald sie sieben sei. Kurz nach ihrem siebten Geburtstag, als ich von meinem ersten Semester in Uppingham zurückkehrte, erinnerte sie mich an mein Versprechen. Ich nahm sie mit nach oben, ließ sie sich auf ein Fensterbrett setzen und sagte, sie brauche nur zu springen, den Rest würde meine Zauberkraft erledigen. Nach kurzer Überlegung verzichtete sie auf das Angebot. Und noch heute bin ich ihr dankbar dafür, daß sie sich nie auch nur das kleinste Zeichen von Enttäuschung oder Ernüchterung über ihren Bruder anmerken ließ.
Für einen dreizehn- und einen fünfzehnjährigen Jungen allerdings ist ein sechsjähriges Mädchen nicht viel mehr als ein Spielzeug, und so verbrachte Jo die meiste Zeit in Begleitung der großartigen Nanny Riseborough, die schon als junges Mädchen Dienstmädchen bei unseren Vorgängern gewesen war.
Bevor der Leser den Eindruck bekommt, meine Kindheit sei so eine Art Brideshead gewesen, sage ich lieber noch etwas über das Leben in Norfolk. Das Haus, in dem ich aufwuchs und in dem meine Eltern heute noch leben, ist zweifellos riesig, aber andererseits brauchte mein Vater viel Platz, nachdem er sich gegen eine akademische Karriere entschieden hatte, seinen Job in der Industrie als zu monoton empfunden und beschlossen hatte, sich selbständig zu machen. Als wir noch in Chesham wohnten, waren wir auf der Suche nach einem geeigneten Haus mit entsprechend vielen Nebengebäuden tagelang kreuz und quer durch England gefahren. Ich erinnere mich noch an endlose Autofahrten zu unverkäuflichen Häusern mit überwucherten Gärten. Meine Mutter schluckte beim Anblick der Küchen und Empfangszimmer, während mein Vater über die unzureichenden Nebengebäude nur stirnrunzelnd den Kopf schüttelte. Roger und ich trieben uns derweil zu Tode gelangweilt in den von Unkraut überwucherten Gemüsegärten herum.
Einer der Angestellten meines Großvaters, ein echtes Goldstück, entdeckte eines Tages ein freistehendes Haus in dem Dörfchen Booton in Norfolk. Es handelte sich um eine imposante viktorianische Villa mit einem riesigen Pferdestall und zahllosen kleineren Remisen sowie einem angebauten Cottage von der Größe eines großzügigen Stadthauses. Es besaß aus unerfindlichen Gründen fünf Außentoiletten, einen sagenhaften Gemüsegarten mit Spargelbeeten, einen Obstgarten mit Apfelbäumen, einen Tennisplatz, einen Badminton-Rasen, einen Schweinekoben, eine Pferdekoppel, Hühnerställe, dunkle Rhabarberflecken und ein Gartenhäuschen. Ausschlaggebend aber waren die Größe und der Zustand des Pferdestalls, der Vaters Labor werden sollte. Hier war Platz für mehr Drehbänke, Oszillographen und andere Geräte, die Piep, Tüüt oder
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