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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Vater vom wilden Willi war Kellner gewesen. Und was für einer! Er hatte in Bad Gastein sowohl Bismarck als auch Kaiser Wilhelm I. böhmischen Karpfen serviert, und damit man wusste, mit wem man es zu tun hatte, nannte er Blumenkohl immer noch Karfiol.
    Theo und Otto verbrachten einen ganzen Sonntagnachmittag mit dem alten Bleirich. Er spendierte den Jungen im Café Hauptwache das teuerste Glace auf der Karte: Mokka mit in Rum getränkten Pistazien. Wann fand ein ehemaliger Saalkellner, dem nur seine Erinnerungen und ein kurzatmiger Dackel geblieben waren, noch Zuhörer, die ihm mit offenem Mund und starren Augen lauschten? Der Sohn hatte das Erzähltalent des Vaters geerbt. Bleirich junior wusste mehr von der gehobenen Frankfurter Gesellschaft, als der erfolgreiche Handelsmann Johann Isidor Sternberg je erfahren würde. Besonders das Schlüpfrige und Sündige beherrschte der Willi meisterhaft. Selbst Theos Ohren glühten.
    Der Stern aber, der am Firmament von Ottos neuem Leben jeden anderen überstrahlte, hieß Paul Friedrich Hagen, ein Beau mit einem Schnurrbart, der wie Kaviar glänzte. Die Hand so zu küssen, dass die Damen feuchte Augen bekamen, hatte er von einem Wiener Baron gelernt, die Schlager »Schlösser, die im Monde liegen« und »Schenk mir doch ein kleines bisschen Liebe« von dem Operettenmeister Paul Lincke persönlich. Paul Hagen hatte ein goldenes Herz und eine Mutter, die ihm jede Braut ausredete, was er widerstandslos geschehen ließ. Trotzdem war er kein Hagestolz, sondern ein sehr fideler Fünfziger. Zudem war er der Vetter von Theos Vater. Theo war sein Patensohn, und in den war er so vernarrt wie andere Männer seines Alters in die blonde Soubrette auf der Bühne. Vor allem war der fesche Paul Hauptbuchhalter am Frankfurter Schumanntheater und somit König der Freikarten. Schon als Vierzehnjähriger war Theo regelmäßiger Besucher in dem prächtigen Theater mit den herrlichen Statuen und der Fassade aus weißem Sandstein gewesen.
    Theo liebte den Zirkus und schwärmte für das Varieté, doch wenn das Schumann seinen Operettenmonat hatte, fehlte er bei keiner Vorstellung. Er träumte davon, ein so berühmter Fotograf zu werden wie sein Lehrmeister, und dann wollte er nur noch im Theater fotografieren. Otto hatte noch nicht einmal eine Ahnung gehabt, dass diese schöne Welt des Scheins überhaupt existierte. Seine Versäumnisse holte er in einer einzigen Nacht nach und dies nur, weil seine Mutter am ersten Frühlingstag vergessen hatte, seinen Käfig zu verriegeln, und weil der gestrenge Herr Papa seinen Geschäften in Paris nachging.
    Mit Orpheus, der Thema seines letzten – mit mangelhaft benoteten – Hausaufsatzes gewesen war, machte Otto die Bekanntschaft der Muse Thalia. Dies tat er ausgerechnet mit dem Werk Jacques Offenbachs, eines Mannes, den Vater Sternberg als einen »miesen Kölner« zu beschimpfen pflegte, »der uns allen Schande macht«.
    Jahrelang hatte Otto gebangt, es würde zu seinen Lebzeiten keinen Krieg mehr geben, in dem er für das Vaterland sterben durfte. Im Schumanntheater zu Frankfurt am Main, in einer Loge versteckt und mit klopfendem Herzen, opferte der kaisertreue junge Deutsche in einer einzigen Nacht seine patriotischen Ideale. Um seine Moral und Unschuld war es von der Sekunde an geschehen, da er die schöne Eurydike erblickte. Sie hatte Goldspangen im Haar und Goldschmuck um den Hals und trug ein Gewand, das jede Rundung des weiblichen Körpers offenbarte. Otto, der einst die Worte »Dulce et decorum est pro patria mori« in sein Schreibpult geritzt hatte, entdeckte das Weib und begehrte die Sünde. Als Eurydike dem Honighändler folgte, der sich als Fürst der Unterwelt entpuppte, träumte Otto bereits den kühnsten aller Männerträume. Die Beine der Cancantänzerinnen begleiteten ihn in den Schlaf.
    Die Mutter fragte Otto nicht, wo er gewesen war. Zu sehr fürchtete sie, eine solche Befragung könnte ihrem Gatten nach seiner Rückkehr Erkenntnisse vermitteln, die sie ihm um des ehelichen Friedens willen vorzuenthalten gedachte. Allerdings täuschte sich Frau Betsy. Johann Isidor hatte sich in Paris nicht ausschließlich seinen Geschäften gewidmet; er hatte einem seit geraumer Zeit schwelenden Bedürfnis nachgegeben, die legendär schönen jungen Pariserinnen näher kennenzulernen. Frau Betsys zweiter Irrtum galt dem Sohn dieses vielseitig interessierten Vaters. Nur weil Otto nicht das Klavierspiel üben mochte, war er absolut nicht, wie seine Mutter

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