01 Das Haus in der Rothschildallee
voreilig angenommen hatte, musikalisch desinteressiert. Die Melodie von Jacques Offenbachs berühmtem Couplet »Als ich einst Prinz war in Arkadien« und das Höllenspektakel samt Cancan wichen nie mehr aus seinen Erinnerungen.
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SONNTAG IN EINEM WELTBAD
Baden-Baden, 28. Juni 1914
In Frankfurt erinnerten die Wolken auch im Sommer an aufgedunsene graue Schwämme. In Baden-Baden waren es flauschige Federwolken, die in den Monaten der Fülle am Mittagshimmel Reigen tanzten. »Sie sehen aus wie die Oberbetten von Frau Holle«, sagte Betsy beim Frühstück auf der Sonnenterrasse.
Ihre Tochter Clara, vierzehn Jahre und zwei Monate altklug, deutete das Schulterzucken der Besserwisser an. Sie setzte an, ihre Mutter zu fragen, wie eine Frau von zweiundvierzig Jahren auf einen so kindischen Vergleich gekommen war, doch sie wartete zu lange auf die schweigende Zustimmung ihres Zwillingsbruders und verpasste so die Chance, sich im Familienkreis als eine kritische junge Dame ohne falsch verstandene Ehrfurcht zu profilieren. Unter den letzten beiden Aufsätzen der Obertertianerin Clara Sternberg hatte der Deutschlehrer indes bemängelt: »Sprachlich einwandfrei, aber zu wenig Phantasie«.
»Zu wenig Phantasie«, grinste Erwin. Alle waren sich einig, dass er kein bisschen boshaft war und nur das Bedürfnis hatte, sein Gedächtnis zu trainieren.
Um die Mittagszeit verkündete der Baden-Badener Sommerhimmel wundersame Botschaften. Der lebenstrunkenen Jugend machte er weis, die Liebe würde ewig währen, der Mensch könne die Zeit festhalten und die Sterne vom Himmel holen. Den Alten redete ein Schalksnarr in den Wolken ein, die Sache mit dem Jungbrunnen wäre keine Erfindung von Poeten und Malern, sondern eine Wirklichkeit, nach der man nur die Hand auszustrecken brauchte, wobei es hilfreich sei, mindestens einmal im Jahr in die Quellen von Europas Kurbädern zu tauchen und ihr Wasser in kleinen Schlucken zu schlürfen.
Für den 28. Juni 1914 zeigte der Kalender Sonntag an. Ein himmelblauer Sonnentag war der, wie es vor ihm kaum einen in diesem Jahr gegeben hatte. Zwar waren die Morgenstunden bereits ein wenig schwül und schwer, doch die gelegentlich aufkommenden Brisen und der Duft von Jasmin stimmten froh und erwartungsvoll. Wie übermütige Füllen, die dünne Lederpeitsche für das beliebte Pferdchenspiel in der Hand, tollten ausgelassene Buben hinter dem Rücken ihrer flanierenden Eltern her. Ebenso übermütig gebärdeten sich die kleinen Mädchen mit den hübschen Schleifen im Haar und den zierlichen Ketten um den Hals. Trotz ihrer empfindlichen Sonntagskleider mit Rüschen und Volants und den schwarzen Spangenschuhen aus weichem Leder oder Lack hatten sie vergessen, dass edle Prinzen nur sittsame kleine Mädchen in ihre Königsschlösser führten.
Die Fremden, die im Sommer die gemütvolle Kurstadt belebten und die Badeärzte, Gastwirte und Geschäftsleute, die Musiker und Kutscher entzückten, fielen durch ihre feine Stadtkleidung auf. In vornehmer Haltung, manche so aufrecht wie Soldaten, saßen sie auf den weiß lackierten Bänken vor dem Musikpavillon und um die Blumenbeete, die Damen mit duftigen Hutgebilden, offenen Fächern und feinstem Schuhwerk. Viele Herren trugen ebenfalls sommerlich helle Kleidung – die mit den Prinz-Heinrich-Mützen erinnerten an Schiffskapitäne, die in den grünen Jacken mit hellen Hornknöpfen an Jäger.
Ohne die körperlichen Anstrengungen der zehrenden Badekur war der Sonntag in Baden-Baden ein angenehm ruhiger Tag. Der Kopf war frei, die Gedanken waren leicht, die Herzen froh. Auch Johann Isidor und Betsy saßen auf einer Bank im Kurpark und hielten das Leben für ein Kinderspiel. Sie hatten ihre Finger ineinander verschränkt, ihre Schultern und ihre Knie berührten sich, und wenn der eine den Atem des anderen hörte, hielten sie sich für ein junges Liebespaar, das noch Flügel hat und das genau weiß, wohin die Reise geht. »So ganz ohne Kinder«, bemerkte Johann Isidor. Er seufzte leise und erleichtert, und dann sagte er ungeniert: »Wunderbar.«
»Ein Himmelssegen«, bestätigte Betsy. »Und ich hab noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen.«
»Das kommt erst morgen, wenn wir sie alle vier im Wald aussetzen. Wie die Eltern von Aschenputtel.«
»Hänsel und Gretel«, lachte Betsy, »man merkt, dass du keinem von ihnen je ein Märchen erzählt hast.«
»Sag nur, dass tun die Ehemänner von deinen Freundinnen.«
»Nein«, gab Betsy zu, »das tun die nicht. Die erzählen
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