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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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mit Pferdchen neidete. Der Puppenwagen der Schwester war allein schon durch den Ruhm des großen Bruders geschützt. So mancher roh attackierte Junge zwischen Rothschildallee, der Berger Straße und dem Prüfling verdankte Theo einen Überraschungssieg gegen einen übermächtigen Gegner, so mancher Grobian dem hilfsbereiten Goliath ein blaues Auge.
    Für den schmächtigen Otto, der die Mieter seines Vaters so verlegen grüßte, als leide er an der Menschheit ganzem Jammer, hatte Theo oft Mitleid empfunden. Ab dem Zeitpunkt indes, da er ihn aus einer Notlage errettet hatte, fühlte sich der Ältere für den Jüngeren verantwortlich. Ottos Hilflosigkeit, als er von der Masse geschmäht worden war, und dass er noch nicht einmal versucht hatte, sich zu wehren, gingen Theo nie mehr aus dem Sinn. Sooft es ihm möglich war, gab er Otto Geleitschutz auf dem Schulweg.
    Erst da lernten sich die Jungen wirklich kennen. Theo gefielen Ottos nachdenkliche Art und ein schlagfertiger Witz, den er nicht vermutet hatte. Ihn, der sich ausschließlich für die technische Entwicklung der Neuzeit interessierte, beeindruckte es, dass Otto täglich Zeitungen las und von den Ereignissen in der Welt berichtete, als würde er Abenteuergeschichten erzählen. Bald wurde es Brauch, dass Theo den Freund sonntags nach dem Mittagessen abholte, wobei er so höflich und geschickt um das Einverständnis von Ottos Eltern buhlte, dass es Sternbergs unangenehm war, bei ihren Vorbehalten zu verharren. Anfangs gingen die Jungen im Ostpark spazieren und sahen den kleinen Buben zu, die im Weiher ihre Schiffe vom Stapel ließen, später flanierten sie den Röderbergweg entlang, versuchten, mit kichernden Backfischen zu schäkern, die hinter ihren Eltern herliefen, und sahen sehnsüchtig den jungen Frauen im Sonntagsstaat nach.
    »Wie lernt man überhaupt so ein Mädchen kennen?«, fragte Otto.
    »Ich glaube, man wartet ab, bis sie stolpert und einem vor die Füße fällt«, malte sich Theo aus.
    »Das verwechselst du mit dem Apfel, der Newton auf den Kopf gefallen ist.«
    Als die beiden Freunde sich besser kannten, vertrauten sie einander die Träume an, die sie nachts verstörten. In solchen Momenten vergaßen sie ihr Bemühen, sich so zu geben, als wäre ihnen nichts Männliches mehr fremd, und sie wunderten sich sehr, dass in der deutschen Sprache überhaupt Worte existierten, um Gefühle zu beschreiben, die den Körper in Brand setzten, als wäre er aus Pappe.
    Durch Theos Berufstätigkeit wurde auch Otto vor der Zeit erwachsen. Es drängte ihn nach Unabhängigkeit, nach dem Leben in der Stadt, nach neuen Eindrücken und Erlebnissen jenseits des Vertrauten. Von Woche zu Woche erfand er glaubhaftere Ausreden, um dem Kokon seines Elternhauses zu entschlüpfen. Theos neue Bekannte begeisterten ihn. Sobald sie ausgelernt hatten, war es das selbst verdiente Geld, mit dem sie ihre Zigaretten und ihr Bier bezahlten und ihren Herzdamen eine Limonade spendierten. Sie waren Kellner in stadtbekannten Cafés, Angestellte in Hotels, Verkäufer in feinen Geschäften oder Volontäre in vornehmen Handelskontors. Otto erschienen sie reich und sehr klug. Auf alle Fälle waren sie reifer, spontaner, natürlicher, umgänglicher und herzlicher als seine Mitschüler. Je besser er sie kennenlernte, umso mehr beneidete er die Berufstätigen. Sie durften sich nach eigenem Geschmack kleiden, kein Lehrer schikanierte sie mit Schillers Balladen und den Essays römischer Geschichtsschreiber, ihre Mütter zwangen sie nicht ans Klavier. Sie fuhren nicht mit ihren Eltern in die Sommerfrische und dinierten unter keinem Lüster aus böhmischem Kristall, doch die Bücher, die sie lesen wollten, mussten sie nicht unter der Matratze verstecken. Diesen Freien predigte keiner mehr, sie würden nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen. Wann immer sie wollten, redeten sie von Frauen und der Liebe, und der Satz des Pythagoras war ihnen so gleichgültig wie Otto das mütterliche Gebot, er müsse jeden Morgen ein Glas Milch trinken.
    Karl Kalubka, der Kellner vom Baseler Hof, und Willi Bleirich begeisterten Otto. Der wilde Willi balancierte im Sommergarten vom Café Hauptwache so hohe Tassentürme, dass die Damen in Federboa und Blumenhut jedes Mal applaudierten, wenn er ihnen die Schokoladentorte mit Sahnehaube brachte. Im Winter betreute er die Herrenwelt in der Billardstube, wobei er Zigarren geschenkt bekam, die sich Ottos Vater noch nicht einmal an Feiertagen gönnte. Schon der

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