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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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hätte zur Zugehfrau »Halt’s Maul« gesagt, und sie würde grundsätzlich den Milchmann in der Höhenstraße und den Scherenschleifer aus dem Hintertaunus duzen. Auch ehrten die Berghammers die Hausordnung nicht so wie andere Mieter. Vor ihrer Wohnungstür stand häufig Gerümpel, selten waren Treppe und Keller befriedigend geputzt. In den Staub des Flurfensters im dritten Stock hatte Josepha einmal das Wort »Sau« geschrieben, was sie allerdings bei Gegenüberstellung mit der empörten Frau Minchen vehement abstritt. Der stockfleckige Zustand von deren großer Wäsche, am ersten Mittwoch des Monats auf dem Trockenboden zu besichtigten, fiel selbst Frau Betsy auf. Obwohl sie es gemeinhin vermied, sich mit dem Privatleben ihrer Mieter zu beschäftigen, soll sie laut Josepha »die Berghammersche« zweimal eine Schlampe genannt haben.
    Am verwirrendsten für die Sternbergs war Theos Entwicklung. Noch vor Erlangen seiner mittleren Reife ging der Sohn eines promovierten Akademikers von der Schule ab. In der Woche darauf begann er ein Volontariat bei einem Porträtfotografen in der Stadt. »Gestrauchelt«, kommentierte Betsy, als sie ihrem Mann Bericht erstattete. Bewusst unterließ sie es, auf das stadtbekannte Renommee von Theos Arbeitgeber hinzuweisen. Der Gestrauchelte erfuhr aus Ottos Mund vom harten Urteil der Hauswirtin, doch im Treppenhaus grüßte er sie so unbefangen wie zuvor. Er hatte den Schneid, jeden Morgen das Haus erhobenen Hauptes zu verlassen – in legerer Kleidung und laut pfeifend. Um den Hals trug er meistens ein rotes Tuch, und Josepha wollte ihn einmal gar in roten Strümpfen gesichtet haben. Sternbergs waren rat- und sprachlos. Sie gehörten ja noch nicht lange genug zur gehobenen Gesellschaft, um andere Lebensziele als die eigenen zu akzeptieren.
    »Ein Junge aus gutem Haus hat das Abitur zu machen, zu studieren und zu promovieren. Selbst wenn sein Herr Vater sein Dienstmädchen geheiratet hat und wahrscheinlich die Sozis wählt«, pflegte Johann Isidor auf Ottos unziemlichen Einwand zu reagieren, der Kaiser hätte auch nicht promoviert. Vater Sternberg ahnte, von wem das Argument stammte. Seine Ängste, Otto könne seinem Idol nacheifern und gleichfalls vorzeitig von der Schule abgehen wollen, vermochte Johann Isidor allein Gott anzuvertrauen.
    Lediglich als Geschäftsmann war er gewohnt, beide Seiten einer Medaille zu prüfen. Als Vater befahl er dem Sohn, den Verkehr mit Theo auf das Minimum zu beschränken, das »die Höflichkeit erfordert«. In der Unterredung, von der er hoffte, sie würde Otto endgültig davon überzeugen, dass es im Leben einzig auf den Umgang mit Ebenbürtigen ankomme, berief sich der Sohn des Viehhändlers Sternberg abwechselnd auf seine selige Großmutter, auf Bismarck, König Salomo und die eigene Lebenserfahrung. Wie es überhaupt zu der Freundschaft mit Theo gekommen war, fragte er nicht. Auch seine Frau begehrte keine Auskunft. So erfuhren weder Vater noch Mutter, dass ihr Sohn den einzigen Freund, den ihm das Leben bescheren sollte, einer jener demütigenden Situationen verdankte, die in Deutschland Generationen von jüdischen Kindern das Fürchten gelehrt haben. Auch der kleine Johann Isidor Sternberg aus Schotten und die niedliche Betsy Strauß aus Pforzheim waren nicht verschont geblieben.
    Auf dem Nachhauseweg von der Schule war Otto in der Habsburger Allee von einer Clique Volksschüler angegriffen worden, die im ganzen Stadtteil gefürchtet wurde. Die rauflustigen Halbwüchsigen setzten alles daran, die Schüler des Kaiser-Friedrichs-Gymnasiums auf dem Heimweg zu erwischen und sie als »eingebildete Pinkel« zu verhöhnen; sie boxten ihren Opfern blutende Nasen, kaperten ihre Mützen und Taschen und bewarfen sie mit Pferdeäpfeln. An Otto hatten sie ein nachhaltiges Exempel statuieren wollen.
    In dem kritischen Moment aber, da der Anführer der Bande den zappelnden Otto von hinten umklammerte, ihm die Schultasche aus der Hand und die Mütze vom Kopf riss und beide über einen zwei Meter hohen Zaun warf, tauchte Theo auf. Sämtliche Teilnehmer der Schlacht, die Rossäpfel wurfbereit, skandierten gerade aus vollem Hals: »Saujud! Saujud!« Der wohlbehütete Otto hörte das Schmähwort zum ersten Mal.
    Theo reagierte spontan. Es war sein Sinn für Fairness, sein Mitgefühl mit den Schwachen, seine Anständigkeit, die ihn in den Kampf trieben, nicht Bubenlust, sich raufend zu bewähren. An Theos kleinen Bruder wagte sich keiner, der ihm sein Knabendreirad

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