01 Das Haus in der Rothschildallee
dessen Mutter schon sehr lange in ein Gespräch mit einer jungen Frau im hellblauen Tüllkleid vertieft war, pflanzte ein Holzstöckchen mit einem schwarz-weiß-roten Papierfähnchen zwischen die Blumen. Seine Mutter holte zum strafenden Schlag aus, doch der kleine Matrose war tapfer und geschickt. Er duckte sich im genau richtigen Moment. Die Mutter strauchelte. Ihr Heldensohn lachte.
Obwohl Johann Isidor kurz die Augen öffnete, sah er die Schokoladenpflaumen in Goldpapier, die in den Konditoreien auf den Kuchentheken lagen und die Victoria jeden Tag aufs Neue um ihre Zufriedenheit brachten. Ihr war bei einwandfreiem Betragen eine versprochen worden – allerdings erst am Tag der Abfahrt. Die Goldpflaumen, stellte Johann Isidor entsetzt fest, wurden immer größer. Sie rotierten umeinander und erschienen ihm wie Flammenschwerter. Von wo wurde er vertrieben und von wem? Er griff sich an den Hals.
»Wie sind wir eigentlich hierher gekommen?«, fragte er.
»Meinst du das im Ernst?«
»Nein!«
Johann Isidor Sternberg, der im Wachzustand nur an das glaubte, was er sah und anfassen konnte, war endgültig aus dem Irrgarten der Sommerträume zurückgekehrt.
Alle sechs Sternbergs waren zusammen mit Jettchen Bär, einer verwitweten, vermögenden und vereinsamten Großtante des Hausherrn, vor zehn Tagen im Badhotel zum Hirsch abgestiegen. Die Kinder zu einer Badekur mitzunehmen war ein Entschluss in letzter Minute gewesen – und wahrhaftig kein freiwillig getroffener. Erwin und Clara hatten zu ihren beiden Tanten und den vielen Cousinen und Vettern nach Pforzheim fahren sollen, doch hatten Betsys Schwestern kurzfristig und mit fadenscheiniger Begründung ihre Einladungen auf die Herbstferien verschoben. Victoria war hauptsächlich auf Jettchens Drängen mitgenommen worden. Die liebenswerte Tante aus Darmstadt mit den aufsehenerregenden Spitzenjabots, die sie aus Brüssel kommen ließ, und einem Gehstock mit silbernem Löwenkopf hatte ein sprichwörtlich goldenes Herz und eine äußerst freigiebige Hand. Jettchen war nach dem Tod von Erbtante Luise die Doyenne der Familie. Von ihrer Schwester hatte sie sowohl den kostbaren Familienschmuck übernommen als auch die Anhänglichkeit an ihren Großneffen Johann Isidor. Betsy liebte sie, den Kindern erfüllte sie auch jene Wünsche, die als unbescheiden und ungehörig galten. Nur bei dem Mohren aus Togo, den Victoria bei ihr bestellt hatte, gab sie sich unbeugsam.
Mit den eigenen Kindern hatte Jettchen weniger Fortüne gehabt. Ihre beiden Töchter hatten sich vor der Hochzeit katholisch taufen lassen und Jahr um Jahr die Verbindung zur Mutter gelockert. Ihre Enkelkinder kannte sie nicht. Diese Erfahrung und eine immer größer werdende Sehnsucht nach Familienleben hatten aus dem jung gebliebenen Jettchen mit dem heiteren Gemüt eines schwärmerischen Mädchens eine einsame, verbitterte Frau gemacht.
Als Großtante Luise im März 1914 starb, hatte Betsy, als wäre es ein göttliches Gebot, den leer gewordenen Stuhl am Familientisch neu zu besetzen, Jettchen umgehend eingeladen, das acht Tage währende Pessachfest in Frankfurt zu verbringen. Noch ehe das Bitterkraut gereicht wurde, das am ersten Abend an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten erinnert, hatte sich Jettchen in Victoria verliebt. Fortan nannte sie die Sechsjährige abwechselnd Vickylein und Herzchen und ließ sich durch keinen Einwand von dem Gedanken abbringen, ein anstrengendes und vorlautes kleines Mädchen würde ihr in der Sommerfrische die entgangenen Großmutterfreuden ersetzen und ihrer Gesundheit förderlich sein. So verwunderte es auch keinen in der Familie, dass Jettchen die Einzige war, die es entzückend fand, dass ihr Vickylein an der exquisit gedeckten Hoteltafel saß, schmollend ihr Brot in die Suppe versenkte und mit ihrer schönen klaren Stimme nach Josephas Hackbraten und Kirschauflauf jammerte.
Die Anregung zu einer Badekur stammte vom guten Doktor Meyerbeer, der mit den Jahren nicht nur der Hausarzt, sondern Familienfreund und Vertrauter geworden war. Meyerbeer hielt viel von deutschen Heilbädern. Nur in guter Stimmung und bei seinen besten Freunden war er allerdings bereit, seine Wertschätzung zu begründen. »Ich bin«, pflegte er zu erzählen, »in Bad Ems auf einen Schlag von meinem Herzleiden kuriert worden.« Die Spontanheilung verdankte er seiner tüchtigen Gattin, die im vergangenen Sommer zwischen Kurkonzert und Nachmittagskaffee einen gut aussehenden und gut verdienenden
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