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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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»Und außerdem«, merkte sie mit einem Lächeln an, das ihr Mann durchaus richtig deutete, »ist es zurzeit Theo, der über eine volle Schüssel verfügt. Er hat nämlich ein Fahrrad, und falls du es noch nicht mitbekommen hast, ist ein Rad bei der Jugend von heute das Salz der Erde.«
    »Muss ich das wissen? Jedenfalls sieht es unserem Herrn Sohn ähnlich, sich nicht einen Freund aus dem eigenen Milieu zu suchen.«
    »Warst du denn als Junge nur mit den Söhnen von Viehhändlern befreundet?«
    Theos Vater, ein Gymnasiallehrer, der im Treppenhaus seinen Hauswirt mit einem Anflug von Verlegenheit zu grüßen pflegte, wohnte seit Juni 1906 im dritten Stock. Ein halbes Jahr nach dem Einzug der fünfköpfigen Familie Berghammer in die Rothschildallee 9 war eine Tragödie geschehen. Im »Frankfurter Generalanzeiger« war das entsetzliche Unglück gar mit zwanzig Zeilen registriert worden, und monatelang war es Gespräch im Viertel. Die junge Frau Berghammer, eine blonde Schönheit, immer fröhlich und zu jedermann hilfsbereit, war unter das rechte Vorderrad des einzigen Autos geraten, das an diesem Tag auf der Nibelungenallee gefahren war. Ohne das Bewusstsein noch einmal zu erlangen, war die Zweiunddreißigjährige im Bürgerspital gestorben, nur einen Steinwurf weit vom Ort des furchtbaren Unfalls entfernt. Zurück blieb ein verzweifelter Witwer mit drei Kindern. Theo, das älteste, war damals zwölf. Das jüngste Kind, knapp sechs Monate alt, war am Zahnen, hatte Fieber und Koliken und konnte keine Nahrung bei sich behalten, doch ausgerechnet die Fieberschübe der kleinen Elise trugen zur Entschlussfreudigkeit ihres verwitweten Vaters bei; er galt als eher zögerlich. Doktor Berghammer engagierte Minchen Bockmann, ein besonders williges und sehr junges Dienstmädchen. Sie war ebenso schön wie seine verunglückte Gattin, schnürte selbst bei der Arbeit ihren Busen und trug sonntags zwei Spitzenunterröcke übereinander. Bald erzählten die Frauen auf der ganzen Allee, das schöne Minchen würde schier alles für die Kinder tun. Josepha wusste noch mehr.
    »Und für den Hausherrn«, pflegte sie hinzuzufügen, wenn die Rede auf Minchens Arbeitseifer kam. Mochte Josephas Zunge auch ein wenig spitz geworden sein, sie hatte recht. Nach Ablauf des Trauerjahrs heiratete der Witwer Berghammer das Fräulein Bockmann, das so effizient dafür gesorgt hatte, dass er nachts wieder gut schlafen konnte. Sie liebte seine Kinder, als wären es die eigenen, und engagierte als Dienstmädchen eine grobschlächtige Person mit schütterem Haar und großen Füßen, die selbst an Sonntagen nicht auf die Idee kam, ihre Brust zu schnüren.
    »Die Neue kann sogar die Taschentücher ihrer Vorgängerin benutzen. Das Monogramm stimmt ja noch«, sagte Josepha zu Maria, die der zweiten Frau Berghammer absolut das ihr zuteilgewordene Glück neidete. Maria war nun Ende zwanzig und hatte keine Hoffnung mehr, dass ihr Wachtmeister sich erklären würde, obwohl er sie an ihren freien Sonntagen immer noch abholte.
    Als Frau Betsy, die noch so gern Schiller las wie in ihrer Jungmädchenzeit, die Vermählungsanzeige der Berghammers in ihrem Hausbriefkasten fand, erinnerte sie sich spontan an Don Carlos und an seine Liebe zu seiner jungen Stiefmutter. Madame Sternbergs erotische Phantasie war da allerdings der Zeit um Längen voraus. Theo kam erst als Sechzehnjähriger auf die Idee, dass er Minchen mit der hochgeschnürten Brust genauso verehrte wie sein Vater.
    Auch ehe sich Otto und Theo anfreundeten, scheute Johann Isidor den Kontakt zu seinem Mieter im dritten Stock. Als das Unglück geschah, hatte ihn nämlich die Vorstellung geniert, ein Akademiker könnte es für aufdringlich halten, wenn er Beileid bekundete. Im Laufe der Jahre stellte sich dann auch noch heraus, dass Doktor Berghammer, obwohl er doch Lehrer war, sehr andere – geradezu sozialistische – Erziehungsideale hatte als sein kaisertreuer Hauswirt und dessen ebenso konservative Gattin. Von Otto berichtete Details, die über Theos Gedanken und die vom Vater gewährten Freiheiten Aufschluss gaben, beunruhigten immer wieder in einer Familie, in der das väterliche Machtwort als göttliches Gebot galt.
    Weiteres sprach dafür, dass es bei den Berghammers auch sonst befremdend bohemien zuging. Die Sprache der kleinen Elise, die wild wie ein Junge war, weil sie in allem ihren Brüdern nacheiferte, wurde sogar noch im Günthersburgpark diskutiert. Der Hausklatsch wusste zu berichten, Elise

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