01 Das Haus in der Rothschildallee
die Märchen ihren Frauen.«
Otto hatte sich unmittelbar nach dem Frühstück mit der verblüffenden Ankündigung verabschiedet, er wollte sich mit einer Ausstellung von Scherenschnitten beschäftigen, die am Vortag lobend in den Mitteilungen für die Kurgäste erwähnt worden war. Erwin und Clara erklärten – gleichfalls ohne zu erröten –, sie wollten im Hotel bleiben und mit der Pflichtlektüre für den Deutschunterricht beginnen. Nach einem Befehl des Vaters und einer diskret übergebenen geldlichen Zuwendung der Mutter hatten sie jedoch zugesagt, zwei Stunden ihrer kostbaren Studienzeit ihrer kleinen Schwester zu widmen und sie nicht umgehend mit dem Marmorkuchen ruhig zu stellen, der beim Frühstück auf den Tellern zurückgeblieben war.
»Ich könnte schwören«, sagte Johann Isidor und nickte dem Spirituosenhändler Fischmann zu, den er flüchtig aus Frankfurt kannte, »die beiden haben unseren Schatz längst bei meiner meschuggenen Großtante abgeliefert.«
»Lass mal. Die Gute ist ganz verrückt nach dem Kind.«
»Dabei müsste doch gerade sie wissen, was aus unschuldigen kleinen Kindern werden kann. Ich rede nicht allein von ihren missratenen Töchtern. Ich denke auch an meinen Bruder Samy, der sich für Rembrandt hält.«
Obwohl Johann Isidor sich gerade vorgenommen hatte, wieder einmal genau auszurechnen, wie viel er Samy schon zugesteckt hatte, damit seine bedauernswerte Frau und die beiden Kinder keine Not litten, schloss er zufrieden die Augen. Nur ein Wimpernschlag war für den Abschied von der Welt bestimmt, und doch entglitt dem Tagträumer die Wirklichkeit in Sekundenschnelle. Die Wolken verwandelten sich in die hüpfenden Lämmer auf den Frühlingswiesen seiner Kindheit, und ehe der Kurgast aus Frankfurt das Wort zum Protest fand, sah er die Bilder, roch die Düfte und hörte die beunruhigenden Klänge aus dem fernen Gestern. Als Johann Isidor gewahr wurde, dass er sich willenlos nach Hause hatte entführen lassen, versuchte er, Landschaft und Menschen wegzuschütteln, doch der Kopf gehorchte ihm nicht. Auf der Wiese hinter dem Vaterhaus stand ein Leiterwagen. Ein Ziegenbock meckerte. Oder war es bereits Rosch Haschanah, und in der Synagoge wurde das Widderhorn geblasen, das an Neujahr jeden Juden an seine Sünden erinnert?
Der soignierte Handelsmann Sternberg, in dessen Büchern keine Ziffer aus der vorgegebenen Ordnung sprang, grub seine Hand in die Tasche seines neuen Leinenjacketts. Ihm wollte nicht in den Sinn, dass ein Mann mit Embonpoint und ergrauendem Haar, der demnächst Besitzer seines ersten Automobils sein würde und dessen ältester Sohn ihn schon lange nicht mehr nach dem Leben befragte, so deutlich die Stimme der Mutter hörte.
Hanna Sternberg geborene Wertheim aus Hanau am Main, verheiratet nach Schotten und bei der Geburt ihres fünften Kindes dort im Kindbett verstorben, hatte ihre blaue Kittelschürze an. Sie duftete nach Hühnersuppe und dem frisch gebackenen Mohnzopf, der jeden Freitag neben der Flasche Wein lag, und hielt ein dick mit gelber Butter bestrichenes Brot in der Hand. Josi müsse sich beeilen, sagte die Mutter. Der Sabbat würde bald anfangen und der Vater zürnen, wenn er schon wieder nicht pünktlich am Tisch wäre.
»Es steht kein einziger Stern am Himmel«, wandte der gescholtene Bub ein, und dann sagte Johann Isidor mit einer Stimme, die jeder, der ihn kannte, sofort als die seine erkannt hätte: »Nur die Mutter hat mich Josi genannt.«
»Das kommt von dem Bad von gestern«, beruhigte ihn seine Frau. »Alle hier sagen, die Quellen greifen die Nerven an, und sie würden selbst noch am nächsten Tag ganz verrückt träumen.«
»Ganz verrückt«, bestätigte Johann Isidor. »Wozu ist das Ganze eigentlich gut, wenn die Quellen zehren und einem erwachsenen Mann Gespenster erscheinen? Was Unbekömmliches trinken kann ich ja auch zu Hause. Zum halben Preis.«
»Zu Hause kriegst du sonntags nur ein gekochtes Ei zum Frühstück und nie zwei Eier im Glas. Und den Sonntagskuchen gibt es bei Sternbergs erst nachmittags.«
»Ich beschwer’ mich ja nicht. Ich stelle nur fest.«
Die Glocke der Baden-Badener Stiftskirche tat ihren zwölften Schlag. Es war ein satter Klang, der den Wünschen ihre Begierde nahm, Nörgeleien den Stachel und Ängsten ihre Bedrohlichkeit. Von dem Rundbeet mit den purpurnen Rosen stiegen die Bienen summend hoch. Über einem kleinen Teich mit Wasserlilien kreisten Libellen. Ein vorwitziger kleiner Knabe im weißen Matrosenanzug,
Weitere Kostenlose Bücher