01 Das Haus in der Rothschildallee
in die Hüften. Ihre Haut roch angenehm frisch nach der guten Kernseife, die Frau Betsy eigens für ihr Personal zu kaufen pflegte. Gut gelaunt nickte sie dem Kanarienvogel zu. Um Victorias Liebling eine Freude zu machen, stellte Josepha bei gutem Wetter sein Vogelbauer auf den Balkon und spendierte ihm ein Stück Apfel. »Aber müßig bin ich nicht«, erklärte sie dem einzigen Hausgenossen, der ihr geblieben war. »Das macht bei mir keinen Unterschied, ob unsere Leute zu Hause sind oder ob sie im Ausland Spätzle oder sonst einen Unsinn essen, den sie bei mir nie anrühren würden.«
Unterhaltungen mit einem Vogel waren sonst nicht Josepha Krauses Art. Wer jedoch in einem Haus mit vier Kindern und einer Klavier spielenden, sangesfreudigen Chefin lebte, war Stille nicht gewohnt und hatte in regelmäßigen Abständen das Bedürfnis, wenigstens die eigene Stimme zu hören. In einer Hand hielt sie ein üppig mit Butter und feiner Kalbsleberwurst bestrichenes Brot, in der anderen ein Stück geschälten Apfel für den Kanari. Zum Dank für die ihm erwiesenen Aufmerksamkeiten zwitscherte der die Melodie, von der Victoria jedermann erzählte, sie hätte sie ihrem Herzensfreund beigebracht und es handele sich um »Kommt ein Vogel geflogen«.
»Das«, sagte Josepha, »kannst du deiner Großmutter erzählen.« Sie überlegte, ein wenig erschrocken, in welchem Alter Frauen, die niemanden mehr hatten, mit dem sie Freude und Leid teilen konnten, mit Vögeln und streunenden Katzen zu reden begannen. »Nein«, sagte sie energisch. Josepha war sicher, dass es nicht lange dauern würde, ehe sich auf der Straße eine Nachbarin zeigte oder sonst jemand, den sie kannte. Gerade in der Ferienzeit, wenn es nicht genug zu tun und zu denken gab, unterhielt sich Josepha gern mit den Frauen aus dem Haus. Eine gemütliche Plauderei, der Austausch von Neuigkeiten und Erfahrungen und der Vergleich der eigenen körperlichen Malaisen mit denen der anderen gehörte zu den kleinen, unschuldigen Freuden von Menschen, die, wie Josepha es zu formulieren pflegte, »ihr sauer verdientes Geld nicht denen von der Eisenbahn in den Rachen werfen«.
Alle Vorschläge von Frau Betsy, während der Baden-Badener Kur des Hausherrn sich wenigstens einige Tage bei ihrer Familie in Bad Nauheim zu erholen, hatte Josepha mit dem gekränkten Ausdruck abgelehnt, der auch bei Dingen von weniger Wichtigkeit anzeigte, dass ihr schier Unvorstellbares zugemutet worden war. Selbst der Hinweis der besorgten Hausfrau auf das Alter ihrer Köchin, die ja zwei Jahre älter war als sie selbst, und auch die wohlmeinende Erinnerung an den Umstand, dass deren Mutter im Herbst ihren Achtzigsten begehen würde, hatten Josepha nicht umstimmen können. »Was soll ich in den kleinen Stuben von meinen Verwandten?«, hatte sie gefragt. »Und Fleisch essen die nur am Sonntag. Und nie vom Kalb. Und das Brot ist auch nie frisch, damit es sich nicht so schnell aufbraucht. Das ist nichts für eine, die doch ihr Leben lang ihr Geld mit ihrer feinen Zunge verdient.«
Mit der rhetorischen Frage, wem gedient wäre, wenn sie ihre eigenen Koffer packte, lehnte Josepha es seit Jahren ab, ihre vertraute Umgebung länger als einen Nachmittag zu verlassen. »Ich bin keine, die in der Gegend herumzigeunert«, pflegte sie zu sagen. Aus ihrer Sicht war das logisch. Josepha war wahrlich keine gewöhnliche Köchin mit festgelegter Arbeitszeit und fest umrissenem Pflichtenkreis. Der schenkte man zu Weihnachten keine wollene Unterwäsche und grinste wissend, wenn sie bei der kleinsten Missstimmung mit Kündigung drohte – und blieb.
Eine von Josephas Schlag kündigte nicht. Sie war seit vierzehn Jahren und drei Monaten im Haus, sie gehörte zur Familie, erstellte keine Bilanzen über getane Arbeit und rechnete nicht nach, ob sie auf ihre Kosten kam. Vom Hausherrn wurde sie wie eine Dame behandelt, die sich selbst eine Köchin hätte leisten können. Der Haufrau war sie eine aufopfernde Stütze, fast eine Freundin: Sie wusste viel und verstand doch zu schweigen. Für die Kinder war Josepha konspirative Mitwisserin, Retterin aus jeder Not und Beichtfrau.
Sie war das Leben in geräumigen Zimmern und im großen Zuschnitt gewöhnt. Mamsell Krause hatte keine Achtung vor Häusern, in denen Schmalhans Küchenmeister war, aß nicht von einem angeschlagenen Teller und trank aus keinem angestoßenen Glas. Wenn sie sonntags zur Kirche ging, trug sie Handschuhe und Hut. Ihre Schuhe wurden vom Zweitmädchen geputzt, die
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