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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Gegend. So richtig wohl gefühlt hat sich sein Magen nie in Darmstadt. Auch wenn wir eine wunderbare Köchin hatten. Sie war beim Großherzog Ernst Ludwig in Stellung gewesen.«
    »Ach Gott, du Arme«, bedauerte sie Betsy. »Ausgerechnet an so einem schönen Tag musst du an deinen lieben Mann denken. Dass traurige Erinnerungen sich aber auch immer ungebeten mit an den Tisch setzen müssen. Das hat mich schon als Kind geplagt.«
    »Überhaupt nicht«, widersprach Jettchen. Sie war wieder ganz die muntere Unverwüstliche. Mit ihrer Gabel grub sie, genau wie Victoria, einen winzigen Graben ins Möhrenpüree und ließ ihn mit Soße volllaufen. »Meine Erinnerungen«, sagte sie, »sind wunderbar. Jedenfalls wenn ich nicht daran denke, dass aus meinen entzückenden, zärtlichen kleinen Mädelchen egoistische Frauenzimmer mit einem Herz aus Stahl geworden sind.« Mit der Entschlossenheit, die ein Charakteristikum ihrer Generation war, hob sie ihr Glas. »Und dass es mir vergönnt ist, mich ausschließlich an die guten Erinnerungen zu halten und mich nicht vorzeitig ins Grab zu grämen, verdanke ich dir, lieber Johann Isidor. Dir und deiner wunderbaren Betsy und euren Kindern. Wenn Menschen überhaupt so alt werden wie ich, erleben sie kaum noch gute Tage. Ich wollte euch das schon die ganze Zeit sagen, aber ich wusste nicht wie. Das Reden war mir ja nie gegeben.«
    »Wer hat dir das weisgemacht?«, lächelte Johann Isidor.
    »Gibt’s nicht endlich den Pudding?«, murrte Victoria. »Mir tut mein Hintern ganz viel weh.«
    »Pst«, zischte Betsy. »So etwas sagt man nicht. Schon gar nicht bei Tisch. Und außerdem gibt es hier keinen Pudding, sondern eine wunderschöne russische Charlotte. Und wenn du heute noch ein einziges Mal ›Pfui‹ sagst, bleibst du den Rest des Sonntags in deinem Zimmer, mein Fräulein. Nanu, was ist denn da los? Warum sieht unser Wirt plötzlich so verstört aus? Er ist ja total grau im Gesicht.«
    Frau Betsy sprach von dem imponierenden Eigner des allseits gerühmten und zu jeder Jahreszeit florierenden Badhotels zum Hirsch. Soeben hatte er noch der schönen französischen Comtesse den Wein aus Neuweier empfohlen und am großen runden Tisch das Friedrichsbad zu Baden-Baden als das Mekka all derer besungen, die Genesung suchten. Nun stand er bleichgesichtig und auch zitternd an der Blumenkonsole mit dem Rosenbouquet im Silberpokal. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Die goldumrandete Speisekarte, aus der er selbstbewusst zu Beginn des Mahls vorgetragen hatte, zerknüllte der erregte Hotelier, als wäre sie ein Stück brüchiges Papier, doch schien er nicht zu merken, was er tat. Neben ihm stand ein junger, hagerer Mann, auch er blass und schwer atmend wie ein Greis. Der Fremde hatte seine dunkle Jacke falsch zugeknöpft und zudem vergessen, ehe er seinen Arbeitsplatz verlassen hatte, die Ärmelschoner auszuziehen. Der Kragen seines weißen Oberhemdes war nass und dunkel. Niemand zweifelte, dass der Fremde wie von Hunden gehetzt zum Hirsch gerannt war.
    »Meine Herren und Damen«, begann der Hotelbesitzer. Seine Stimme war heiser, die zerknüllte Speisekarte zu Boden gefallen. »Ich muss um Ihre ganze Aufmerksamkeit bitten. Dieser Herr hier ist der Baden-Badener Mitarbeiter des Mannheimer General-Anzeigers. Er hat mich soeben von einer Depesche in Kenntnis gesetzt, die seinem Büro vor zwölf Minuten zugegangen ist. In der bosnischen Stadt Sarajevo sind heute der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Ehefrau Sophie Opfer eines Attentats geworden.«
    Es gab einen Moment vollkommener Stille, und doch war sie so bedrohlich wie Kanonendonner. Dann rief ein alter Mann, die Hand am Ohr und mit einer Stimme, die das Befehlen seiner Jugendtage noch immer beherrschte: »Sofort noch einmal. Und diesmal langsam und deutlich.«
    »Gott schütze uns«, hustete der Justizrat, der mit seiner Gattin jeden Sommer nach Baden-Baden kam.
    Die Comtesse jammerte: »Mon dieu!« Einen Moment vergrub sie ihren Kopf in den Händen. Dann stand sie auf. Beim Gehen raffte sie ihren Rock eine Spur zu hoch und stieß mit dem gebauschten Tüll ein Glas um. Es klirrte schrill, als es auf dem Steinboden aufschlug, doch sie drehte sich nicht um und lief so schnell in ihr Zimmer, als bangte sie um ihr Leben.
    »Warum ist das denn alles so wichtig?«, wunderte sich Betsy, »ich hab überhaupt noch nie von diesem Franz Ferdinand gehört?«
    »Doch«, wusste Jettchen, »das hast du bestimmt. Der ist mit irgendeiner

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