01 Das Haus in der Rothschildallee
mit den Briketts im Winter und die Schürhaken einfielen, »keine, in die man ungezogene Kinder sperrt.«
Sie klatschte in die Hände wie ihre französische Bewunderin, als die Vorspeise aufgetragen wurde. Dem Sonntag zu Ehren gab es keine der üblichen dünnen Suppen mit Flädle oder Maultaschen, die das Frankfurter Goldkind blitzartig in einen schnaufenden Wüterich zu verwandeln vermochten, sondern »Schwäbisches Eiersalätle«. Serviert wurde er auf »Käseküchle«. Als Otto mit sonorer Stimme die Speisekarte vorlas, kicherten seine Geschwister im Chor. Sie rieben sich alle gleichzeitig die Ohren und machten sich mit gurgelndem Gelächter daran, jedes Wort, das sie sagten, schwäbisch zu verkleinern. Selbst Otto, der über Kinderscherze so erhaben war wie über wollene Unterwäsche im Winter, machte mit. »Mein Hemdle rutscht mir aus dem Hösle, und das halt ich im Köpfle nicht aus«, meldete er.
Er hatte den freien Vormittag des Zimmermädchens mit ihr in einem nur einheimischen Genießern bekannten Gartenpavillon verbracht. Nun war der erfolgreiche Galan bereit, auch den Rest der Welt zu umarmen. Er reichte seiner Mutter das Salzfass, ehe sie dazu kam, ihn darum zu bitten; er hörte so aufmerksam zu, wie er es vermochte, als sein Vater minutiös erklärte, welche Hoffnungen er mit dem vor zehn Tagen beendeten Besuch Kaiser Wilhelms II. und Großadmirals Tirpitz beim österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand verband. Seiner kleinen Schwester zerschnitt der gütige Bruder das Käseküchle in mundgerechte Happen, ihren Puppensohn im Matrosenanzug rettete er mit beherztem Zugriff vor einem Sturz in die Salatschüssel. Weil sein Vater nach der ausführlichen Erörterung der Tagespolitik außer Atem geriet und eine schöpferische Redepause einlegen musste, übernahm sein Stammhalter spontan die Unterhaltung der Tafelrunde. Vornehmlich unterhielt er dabei seine Geschwister, erzählte Kinderwitze, die er selbst einschläfernd fand, besann sich auf Rätsel, die in der vierten Klasse für anhaltende Heiterkeit gesorgt hatten, und bemühte sich, gleichzeitig mit den Ohren zu wackeln und einer Biene, die im Himbeersaft zu ertrinken drohte, das Leben zu retten.
»Charmant«, sagte die Comtesse am Nebentisch zum zweiten Mal.
Victoria erkannte sowohl das Wort als auch den Umstand, dass das Lob nicht ihr gegolten hatte. Sie schmollte mit den Lippen und mit den Augen und senkte dann so ruckartig den Kopf, dass die Propellerschleife aus der Balance geriet. Die Korallen klapperten gegen den Tellerrand. Damit sich die Schönheit am Nachbartisch wieder allein auf sie konzentrierte, rezitierte das einfallsreiche Kind abwechselnd und ständig lauter werdend »Meine Mama macht mir Mehlmäuse« und »Mümmelmann vernahm Hummelgesumm«.
»Hab ich das verdient?«, fragte Johann Isidor. Er sah nicht mehr aus wie ein Mann, der an Jungbrunnen glaubt.
»Ich finde es bewundernswert, dass ein so kleines Mädchen so einen Zungensalat überhaupt aus dem Mund bekommt«, erklärte Jettchen.
»Ich kann auch krähen«, bot Victoria an.
»Mädchen, die krähen, sollte man gleich den Hals umdrehen«, zitierte Erwin.
Als Zwischengang gab es einen Salat aus Schwetzinger Spargel mit einer Vinaigrette, die mit Sommerkräutern und einem Wein vom Kaiserstuhl abgeschmeckt worden war. Weil Victoria noch nicht in dem Alter war, in dem Spargel als Genuss empfunden werden, Erwin sich weder mit dem Wein noch mit dem Kerbel in der Vinaigrette anfreunden konnte und Clara würgend den Teller zur Seite schob, aß der selbstlose Otto insgesamt vier Portionen.
»Bist ein guter Junge«, lobte Jettchen, »ein richtiger Kavalier. Mein Gott, was geht das alles schnell, dass aus Kindern Leute werden.« Sie dachte an ihre Töchter, die nun auch schon jenseits der fünfzig waren, und dass die ihren katholischen Ehemännern bestimmt keine Sünde mehr wert erschienen. Jedenfalls hatten sie weder an den christlichen noch an den jüdischen Feiertagen das Bedürfnis, an ihre betagte Mutter zu denken. Es machte Jettchen Mühe, die Augen unauffällig trocken zu tupfen, sie musste sich am Tisch festhalten, weil ihr schwindlig wurde, und konnte einen Moment lang nicht schlucken. Ihr Seelenleben geriet erst wieder ins Lot, als der Hauptgang aufgetragen wurde: gefüllter Kalbsbraten mit Rieslingsauce, Gelbrübenpüree und Schupfnudeln.
»Gelbrübenpüree musste unsere Köchin immer an Feiertagen machen«, erzählte sie, »mein seliger Albert war ja hier aus dieser
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