01 Das Haus in der Rothschildallee
Schwert in die Hand« und verkündete auf dem Balkon seines Berliner Stadtschlosses: »Ich kenne keine Parteien und auch keine Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder und nur noch deutsche Brüder.«
Otto erfuhr vom Kriegsbeginn am Liebfrauenberg. Der Rausch des Glücks betäubte ihn. Er hetzte nach Hause, um die stolze Stunde mit den Seinen zu teilen. In der Berger Straße wehten Fahnen, in der Höhenstraße saßen Alt und Jung am offenen Fenster, die Ellbogen auf Kissen gestützt, die Gesichter rot und alle sicher, dass Gott ausschließlich Deutschlands Waffen segnete.
Als des Kaisers Balkonrede in Frankfurt publik wurde, hatte Johann Isidor Sternberg Tränen in den Augen. »Das ist der Tag«, sagte er, »auf den wir immer gewartet haben. Endlich ruft das Vaterland seine jüdischen Söhne. Nur noch Deutsche, hat er gesagt. Deutsche Brüder.«
5
NUR KEINE TRÄNEN
Frankfurt, 19. August 1914
Der Regulator in der Diele war wie immer seiner Zeit voraus. Bereits um sieben Uhr und achtundzwanzig Minuten schlug er die halbe Stunde. Erwin fragte: »Warum schon jetzt?«, und Clara sagte: »Darum.« Otto schaute seine Geschwister an. Weil er nicht verstehen konnte, dass zwei Vierzehnjährige, die von jedermann als klug und wissbegierig befunden wurden, Tag für Tag den gleichen Unsinn plapperten, wollte er seinen Kopf schütteln. Das hatte er jeden Morgen getan, doch ihm fiel ein, dass es sich an einem für ihn so ernsten Tag nicht ziemte, sich noch an der Macht der Gewohnheit zu freuen. Der Gedanke machte ihn unruhig. Und traurig.
Otto starrte den kleinen weißen Milchkrug an. Der hatte rote Punkte und passte nicht zum Service; als kleiner Junge hatte er ihn »Bobbelche« genannt und behauptet, der Krug hätte die Windpocken. Nun hörte er – nach all den Jahren! – seinen Vater wieder »Der Junge hat zu viel Phantasie« monieren. Er hörte auch die Mutter den Hausherrn besänftigen. »Das wächst sich aus«, tröstete sie. Wenn ihr Gatte mit seiner Zeitung beschäftigt war oder sein Brötchen mit Butter bestrich, fuhr sie mit der Hand dem kleinen Otto durchs Haar. Er trug schon ein richtiges Burschenhemd und war damals noch das einzige Kind. Hätte denn das Kännchen mit den Windpocken sonst auch auf dem Frühstückstisch gestanden?
Tante Jettchens Papagei, dessen Käfig im Wintergarten stand, von wo aus er laut seiner Besitzerin die Freuden des Familienlebens am besten überblicken konnte, ahmte den Schlag der Uhr nach. In Erinnerung an alte Zeiten und Tante Jettchens verstorbenen Mann, der seinen Patienten in jeder Leidensphase leichte Kost empfohlen hatte, versuchte sich der schlaue Vogel am Wort »Franzosenbrot«. Danach erzählte er zum dritten Mal im Abstand von zehn Minuten, dass er Otto hieße. Vom Balkon zwitscherte der Kanarienvogel Frohsinn.
»Alle Vögel sind schon da«, sang Victoria, »alle Vögel, alle.«
»Der Hahn, der am Morgen kräht, wird am Abend geschlachtet«, warnte sie Erwin.
»Es muss nicht jeder beim Frühstück so schlecht gelaunt sein wie du«, rügte die Mutter ihren zweitgeborenen Sohn.
Rote und rosa Gladiolen waren mit weißen Levkojen in der kobaltblauen chinesischen Bodenvase arrangiert, die das Esszimmer vom Salon trennte. Viele Frankfurter Gärtner boten in diesen ersten Kriegstagen sogar mehr Ware an als in Friedenszeiten. Der Bedarf an Blumen, hauptsächlich an kleinen Biedermeiersträußen oder an Angebinden aus Margeriten, Mohn und Kornblumen, war enorm. Die Blumen wurden entweder an der Haustür oder am Bahnhof den aus der Heimat scheidenden Soldaten in die Hand – und ans Herz! – gedrückt. Otto war froh, dass ihm dank Theos gutem Rat der Abschied mit Tränen und Blumen erspart bleiben würde.
Einen Moment erreichte ihn der schwere süße Duft der Levkojen, doch dann stellte er sich vor, er müsse sie malen, und er spürte, wie seine Hände feucht wurden. In der Untertertia hatten die Schüler die Vase auf dem Lehrerpult abzeichnen müssen, und Otto hatte nicht gemerkt, dass der Krug einen Henkel und die Rosen Stacheln hatten. Mehreren Jungen in der Klasse war es ebenso ergangen, doch der Lehrer hatte Ottos Zeichenblock auf den Boden geworfen und gewütet, sein Vater solle das Schulgeld sparen und es an die Armen verteilen. »Man merkt gleich, dass du aus einem bilderfeindlichen Volk stammst«, hatte sich der Lehrer in Rage gebrüllt. Ottos Haut brannte, als wäre seitdem kein Tag vergangen. Ihm war es peinlich, dass er ausgerechnet an einem Morgen,
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