01 Das Haus in der Rothschildallee
Hausherr bestand, nach warmer Milch und Schokolade, und besonders intensiv duftete es nach Josephas Zwetschenmus. Sie kochte es nicht, wie die meisten Hausfrauen, lediglich mit Zimt ein, sondern auch mit Nelkenpfeffer, Anis und einer Prise Muskat. Von Josephas Zwetschenmus ging bestimmt eine besondere Erinnerungskraft aus. Otto war sicher, er würde sich den Duft merken. »Muskat«, befahl er seinem Gedächtnis, »und vergiss auch nicht die Nelken.« Er erschrak, als er merkte, dass er angesetzt hatte, die Lippen zu bewegen.
Der Hausvater fehlte am ovalen Tisch mit der grün-weiß karierten Decke und den Maßliebchen im gelben Krug. Alle übersahen den leeren Stuhl. Jedes der Sternberg’schen Kinder hatte beizeiten gelernt, dass es sich beim Frühstück empfahl, nicht jede Frage zu stellen, die sich aufdrängte. Frau Betsy glättete mit zwei Fingern die Stirn; ihre Kinder schauten geübt zum Fenster hinaus. Knapp angedeutete Bewegungen signalisierten bei der Mutter Kopfschmerzen und den Wunsch, man möge ihr eine kleine Ruhepause gönnen.
Einen Moment lang war es so still im Esszimmer, dass jedes Geräusch von der Straße zu hören war: Pferdehufe auf dem Pflaster, ein scharfer Peitschenknall, ein zorniger Kutscher, ein Autohorn mit einem Klang wie ein Dampfer im Nebel, das schrille Klingeln von Fahrrädern, lauter Bubenjubel, ein herzzerreißend jammerndes Kind, das von einer zeternden Mutter als »dreckiger Saubalg« beschimpft wurde, Soldatenstiefel im Gleichschritt, ein noch unbekanntes Marschlied mit einer Melodie, die Clara in den Beinen juckte, und dann wieder ein Auto. Diesmal hupte es nicht; es war scheppernd gegen den Bordstein gefahren.
»Depp«, murmelte Erwin, »dämlicher.« Er wischte seinen Mund mit dem Handrücken sauber. Der Haarwirbel am Hinterkopf, der ihn nie so aussehen ließ, wie sein Vater wollte, dass er aussah, war an diesem Morgen besonders widerborstig. Er hatte sein lateinisches Übungsbuch auf dem Schoß und, wie er selbst am besten wusste, nichts von dem im Kopf, das nach der landläufigen Meinung von strengen Pädagogen und anstrengenden Vätern in das Hirn eines Obertertianers hineingehörte. Johann Isidors zweiter Sohn sah, auch dies typisch für Ort und Umstand, gehetzt, unglücklich und leicht verletzbar aus. Clara, bereits auf dem Weg zur vollen Blüte, war wie immer sorgsam frisiert und in ihrer cremefarbenen langärmeligen Bluse eine Spur zu fein angezogen. Sie wirkte, als wäre sie nur zufällig zu der Gesellschaft am Tisch gestoßen. Den weltfernen Flair und die Gewohnheit, in jeder Lebenslage ein Lächeln anzudeuten, hatte sie von Victorias französischer Mademoiselle übernommen. Die war während des Baden-Badener Aufenthalts der Sternbergs mit Madame Betsys neuem gelben Seidenrock von Frankfurt in die Bretagne gereist und hatte nichts mehr von sich hören lassen.
Für den Erstgeborenen der Familie war die morgendliche Routine, die ihm zum letzten Mal den Schutz des Vertrauten bot, von zeitlich beschränkter Dauer. Von seinem alten Leben blieben ihm nur noch dreißig Minuten. Künftig würde Otto Wilhelm Samuel Sternberg, achtzehn Jahre alt, noch nicht in der Lage, für seinen Unterhalt aufzukommen, bisher optimal geborgen im Schoß der Familie und verzärtelt von einer Tradition, die die Söhne so lange wie möglich mit den Ketten der Liebe ans Elternhaus schmiedet, den Imponderabilien des Lebens ausgeliefert sein. Nur war aus den Imponderabilien des Lebens die Wirklichkeit des Kriegs geworden. Der, den dies betraf, unterdrückte einen Seufzer. Zunächst war die Wehmut, die er spürte, nur ungewohnt und irritierend, zum Ende der Mahlzeit jedoch bedrückte sie ihn so sehr, dass ihn schwindelte. Es wurde ihm auch ein wenig übel. England, Frankreich, Italien, Russland skandierte der künftige Held in seine Kaffeetasse. Wozu hatte er jahrelang die Sprache der Feinde lernen müssen, weshalb nicht beizeiten erfahren, wie ein Knabe zum Manne wird, wie er kämpft und siegt und den Tod nicht fürchtet?
»Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos«, zitierte Victoria. Schon immer hatte sie Gedanken lesen können.
»Vickylein, wo hast du das schon wieder her?«
»Von Fräulein Bender, unserer Turnlehrerin. Ich kann noch viel mehr. Soll ich weitermachen?«
»Nein«, sagte Frau Betsy. »So was gehört sich nicht beim Frühstück.«
Otto, den der Vater beneidete, weil das Vaterland ihn brauchte, der Stolz des Hauses Sternberg, auf dem die Hoffnungen seiner Eltern und der
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