01 Das Haus in der Rothschildallee
möge ein Einsehen haben, sie vor einer neuen Schwangerschaft schützen würden.
Das Gespräch über Ultimaten und Claras Schulbücher fand am 25. Juli zwischen gerösteter Grießsuppe und Hackbraten statt. Ohne dass darüber gesprochen worden war, fielen die Mahlzeiten seit der Rückkehr aus Baden-Baden bescheidener aus denn zuvor. Nur Victoria monierte, dass es zum Nachtisch Kirschkompott ohne die übliche Vanillesauce gab. Der Hausherr war appetitlos und ungewöhnlich zerstreut. Statt auf den Teller legte er das benutzte Besteck auf das frisch gewaschene Tischtuch. Die Hausfrau zuckte zusammen.
Zwei Tage waren verstrichen, seitdem Österreich-Ungarn ein auf achtundvierzig Stunden befristetes Ultimatum an Serbien mit der Aufforderung gestellt hatte, alle serbisch-nationalen Aktivitäten sofort zu beenden und die Verantwortlichen des Attentats konsequent zu verfolgen. »Es kann nicht mehr so weitergehen«, sagte Johann Isidor; er schnäuzte sich in seine Serviette. Drei Tage zuvor hatte er Erwin für das gleiche Vergehen vom Tisch verbannt.
Keiner sprach. Die Zwillinge schauten erst einander und dann ihren Vater an. Sie zuckten die Achseln und traten sich gegenseitig unter dem Tisch. Otto träumte von der Kavallerie und stellte sich vor, auch er hätte als Kind reiten dürfen. Betsy, seit neunzehn Jahren gewöhnt, nicht an der Meinung ihres Mannes zu zweifeln, nahm sich vor, sich ausschließlich auf die Gegenwart zu konzentrieren. Das Gleiche empfahl sie Josepha. Dann setzte sie sich an den Damensekretär im Schlafzimmer, und ohne ihren Mann um Erlaubnis zu fragen, lud sie Tante Jettchen nach Frankfurt ein.
»So eine alte Frau kann doch nicht allein in Darmstadt herumsitzen, wenn es wirklich Krieg gibt«, erklärte sie Johann Isidor.
»Meine liebe Betsy, hältst du es denn für wahrscheinlich, dass der Krieg ausgerechnet in Darmstadt ausbricht?«
»Nein, aber nach allem, was man sich erzählt, beim Bäcker und beim Metzger. Und beim Kohlenhändler. Jeder redet vom Hamstern, und das kann unser Jettchen in ihrem Alter nicht mehr. Wir sind die Einzigen, die sie hat.«
»Du vergisst ihre entzückenden Töchter.«
Sonst aber hatte Betsy recht. Während Deutschlands Männer bei allen Heiligen und ihrer Ehre schworen, in der Stunde der Not dem Vaterland beizustehen, warteten die Frauen den offiziellen Beginn der großen Zeit gar nicht erst ab. Sie kauften ihre Geldbörsen leer und nahmen, was sie bekommen konnten. In ihren Einkaufskörben starb die Mär vom hilflosen Weibchen, das ohne die Männer verloren ist.
Beim Metzger in der Burgstraße war die Gelbwurst vergriffen, in der Berger Straße die Fleischwurst, bei drei Kolonialwarenhändlern weißes Mehl und Kakao. Weckgläser, Wolle, Liebigs Brühwürfel und selbst die nicht so guten von Maggi waren ausverkauft. Höhnisch wieherten die Händler, verlangte eine Kundin eine Erbswurst. Betsy kaufte Stoff für fünf Kleider und für ebenso viele Röcke und Blusen, holte aus der eigenen Posamenterie Borten, Schnur und Quasten für die ganze Wohnung und deckte sich mit Abführmittel, Jod und Nabelbinden ein. Sie musste eine Droschke nehmen, um ihre Hamsterschätze aus der Stadt nach Hause zu befördern. Der Fahrer sah die Pakete und zwinkerte. »Meine Alte macht’s auch so«, sagte er, und Betsy duldete seine Anzüglichkeit, als wäre sie alltäglich.
Tante Jettchen traf ohne Vorankündigung am Freitag, den 31. Juli ein. Weil Betsy geschrieben hatte »Du solltest Dich darauf einrichten, bei uns zu bleiben, bis sich die Lage wieder beruhigt hat«, kam Tantchen mit zwei Schrankkoffern, ihrer größten Hutschachtel und dem Graupapagei. Der hieß ausgerechnet Otto, denn er stammte noch aus der Zeit ihrer Ehe, und der selige Medizinalrat war, wie Johann Isidor, ein großer Verehrer von Bismarck gewesen. Mit durchdringender Stimme verordnete der Vogel mehrmals am Tag »Rotwein mit Ei« und hackte durch die Gitterstäbe, wann immer sie ins Zimmer kam, nach der kreischenden Hanna.
Die Kerzen in den Silberleuchtern von Betsys Großmutter fanden wenig Beachtung, obwohl der Hausherr sich mit den Worten zu Tisch setzte: »Wer weiß es, ob es nicht das letzte Mal ist, dass wir Schabbes im Frieden feiern können.«
Der Papagei unterhielt sich mit seinem blendend gelaunten Namensvetter.
Dem Frieden, der dreiundvierzig Jahre gewährt hatte, war da nur noch eine Lebenszeit von vierundzwanzig Stunden beschieden. Am nächsten Tag erklärte Kaiser Wilhelm II.: »Man drückt uns das
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