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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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gesamten Verwandtschaft ruhten, war kein Achilles, keine deutsche Eiche. Er war immer körperlich anfällig gewesen, und auch jetzt noch war er kleiner und schmächtiger als Gleichaltrige. Seine Hände waren schlank und zierlich, die Finger geschickt wie die einer Frau; er konnte Knoten entwirren, Zöpfe flechten, Zierschleifen binden und Victorias Puppen anziehen. Die Füße steckten in Schuhen Größe vierzig, die Waden waren mädchenhaft schlank, die Schultern noch die eines Knaben. Im Turnunterricht kam Otto das Seil nicht hoch und nicht über den Bock, im angespannten Nervenzustand neigte er zu Magenschmerzen. Auch an seinem Schicksalstag quälten sie ihn. Otto setzte sich kerzengerade hin, um den Druck zu lindern. Er verschränkte seine Finger ineinander, eine alte Gewohnheit, wenn er sich beruhigen wollte. Die Knöchel leuchteten weiß. Ob auch die Mutter sein Herz pochen hörte?
    »Warum darf Papa immer ohne Frühstück aus dem Haus und ich nie?«, quengelte Victoria.
    »Er musste ganz schnell weg«, sagte die Mutter, »jetzt iss endlich dein Brötchen. Oder willst du als Letzte in der Schule ankommen, und alle lachen dich aus?«
    Otto fiel auf, dass die Augen seiner Mutter gerötet waren, doch nicht die allein machten ihn stutzig, sondern ihre Stimme. Diese war ungeduldig wie sonst nie und klang wie die einer Puppe mit eingebautem Sprechwerk. Bei Otto kamen die ersten Zweifel auf. Liefen die Dinge wirklich so, wie er sie geplant hatte, oder war alle Rücksicht, seine ganze raffinierte Strategie, die Lüge aus Liebe, seine Vorsicht und Rücksicht nur eine unzulängliche Tarnung, vergebliche Mühe? Wusste seine Mutter doch Bescheid? Sie hatte sich nie täuschen lassen. Sie fühlte, was zu wissen war. Wie ein erbärmlicher Spieler kam Otto sich vor, wie einer, der sein letztes Geld auf die falsche Karte gesetzt hat.
    Verärgert säbelte er sein Brötchen auf. Er schaute es an wie ein Richter, der zu lange auf eine Erklärung hat warten müssen, den Angeklagten. Die Zähne aufeinandergepresst, legte Otto die Brötchenhälften auf den Teller, jedes Teil im gleichen Abstand zum Messer. Nur nicht hochsehen, nicht diese Mutter mit dem Instinkt eines Spürhundes anschauen, nicht ihren Argwohn erwecken, vor allem nicht das eigene Gesicht freigeben. Stück um Stück rekapitulierte Otto die vergangenen zwölf Stunden.
    Stammelnd und purpurrot im Gesicht hatte er am Abend zuvor seinen Vater gebeten, er möge am nächsten Tag früh aus dem Haus gehen. Eine wichtige Besprechung sollte er vorschützen, Geschäftsunterlagen, Korrespondenz mitnehmen, einfach so tun, als wäre der 19. August ein Tag wie jeder andere. Keinen Abschied sollte es geben, keine großen Worte, bloß nicht der Mutter Bescheid sagen. »Das«, hatte Otto dem Vater erklärt und versucht, erwachsen auszusehen, »machen die anderen auch so.«
    »Das hast du immer gesagt, mein Sohn. Die anderen haben auch ein Mangelhaft in der Lateinarbeit. Weißt du noch? Die anderen haben die Mathematikaufgabe auch nicht verstanden, und alle dürfen sie bis elf Uhr abends ausgehen und allein im Café herumsitzen.«
    »Ich werde es ja nie wieder sagen«, hatte Otto den Vater erinnert, und beide hatten sie gelacht, laut wie Straßenbuben und ölig wie Bierkutscher. An diesem letzten Abend hatten sie wie Männer gelacht, wie Kameraden. Ran ans Gewehr! Aufs Pferd, aufs Pferd. Sie hatten sich mit Augen angeschaut, die fröhlich waren und ohne die übliche Sanftheit und Melancholie. Ausgerechnet an diesem letzten Abend war ihnen eine Ahnung von der Liebe zwischen Vater und Sohn gekommen, die das Leben ihnen vorenthalten hatte.
    Alle machten es so, die zu Helden erkoren waren. Keine Umarmungen, kein letztes Wort, keine Muttertränen, nicht die Sentimentalität und die Süßlichkeit der Romantiker und kleinen Leute. Keine Küsse im Torbogen, kein Lebewohl am Bahnsteig. Das alles war nichts für einen Abiturienten mit Bildung und Würde. Ihm reichte ein Händedruck unter Männern. »Ich rede mir einfach ein, dass ich in eine fremde Stadt zum Studieren gehe«, hatte Lutz Finkelstein gesagt – er war auch nicht größer als Otto, doch der Beste in Latein und Griechisch und nun der mit dem besten Abitur. Kinderarzt wollte er werden, wie der Vater, aber vorher ein Goliath aus Frankfurt, dem man im Lateinunterricht beigebracht hatte, dass es süß und ehrenvoll sei, für das Vaterland zu sterben.
    Auch für Otto galt seit zehn Tagen das Zauberwort »Einrücken«. Ein Militärarzt, der

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