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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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an dem sein Herz Jubel trommelte, weil der Kaiser alle Deutschen zu Brüdern im Kampf gemacht hatte, in so kleinen, nachtragenden Dimensionen dachte.
    Unmittelbar nach Kriegsausbruch hatte die Bäckersfrau die Weichen für die Zukunft gestellt und erklärt, Brötchen würden nun morgens nicht mehr ins Haus gebracht werden. Für gute Kunden war sie indes zu Ausnahmen bereit. Um nicht den Neid der Nachbarn zu wecken, schickte sie allerdings ihren Lehrburschen im Schutz der Morgendämmerung in den ersten Stock der Rothschildallee 9. Zur üblichen Bestellung waren zwei Eierweck für Tante Jettchen hinzugekommen. Da sich die Menschen einig waren, der Krieg würde allenfalls bis Weihnachten dauern, und auch weil Jettchen den Herbst in der Großstadt besonders liebte, hatte sie begeistert auf Betsys Vorschlag reagiert, vorerst nicht in ihre Wohnung nach Darmstadt zurückzukehren. Das Tantchen frühstückte gern im Bett, liebte es morgens süß und fand Eierweck leichter verdaulich als das Backwerk mit krosser Kruste, das ihr Hausmädchen immer vom Bäcker nach Hause gebracht hatte.
    Die drei Brötchen, die das Zweitmädchen Hanna gebraucht hatte, damit es bei Kräften und Laune blieb, waren nicht abbestellt worden. Josepha reklamierte die unerwartet frei gewordene Ration für Paniermehl und Hackbraten und für die Obstaufläufe, die nun öfters auf den Tisch kamen. Hanna war tatsächlich, wie von ihr ja rechtzeitig angekündigt, am Tag der Mobilmachung nach Hause in den Odenwald gefahren. Ihre Eltern hatten – das berichtete sie auf einer Postkarte in fehlerfreier Rechtschreibung und mit vielen Unterstreichungen – so prompt die Vorbereitungen für eine Kriegstrauung mit dem Sohn des Müllers getroffen, dass Hanna nun Frau Merkental hieß. Als Verheiratete, ließ sie wissen, mochte sie nicht mehr in einer »dienenden Stellung« tätig sein. »Mein Gatte«, schloss die stolze Jungvermählte, »ist schon unterwegs an die Front und lässt Sie schön grüßen.«
    Hinzugekommen zu der üblichen Bestellung beim Bäcker waren zwei Karlsbader Hörnchen. Sie wurden nicht auf den Frühstückstisch gebracht, sondern in der Speisekammer verwahrt, unter einer leeren braunen Mehltüte. Das sichere Versteck hatte Josepha gefunden. Da sie ein exzellentes Gedächtnis hatte, wusste sie noch, was bei der Herrin des Hauses der Appetit auf Karlsbader Hörnchen anzeigte. Nach denen, dick belegt mit Kümmelquark, hatte es sie auch verlangt, als sie mit den Zwillingen und mit Victoria guter Hoffnung gewesen war. Seitdem Frau Betsy vor genau einer Woche die Senfbäder und die heißen alkoholischen Getränke aufgegeben hatte, nahm sie sowohl ein zweites Frühstück als auch eine Stärkung zwischen dem Nachmittagskaffe und dem Abendessen ein.
    »Das ist Ihre Pflicht«, hatte Josepha ihre Chefin ermutigt, als sich deren Essgewohnheiten zu verändern begannen. »Sie werden Ihre Nerven noch brauchen. Und hören Sie bloß auf mit dem verdammten Wermut. Der macht nur trübsinnig, und geholfen hat er noch keiner. Weder den Armen noch den Reichen. Das weiß ich von meiner Cousine in Friedberg, und die ist Hebamme.«
    Es war Viertel vor acht. Betsy stand auf, rieb seufzend einen Fleck aus der Tischdecke, rückte die Bodenvase um einige Zentimeter zur Linken, seufzte noch einmal und setzte sich zurück an den Tisch. Otto atmete ein, tief und bewusst, als wäre er beim Arzt und hätte es auf den Bronchien. Ihm wurde bewusst, dass er auf eine Botschaft lauerte, doch hatte er nicht die geringste Ahnung, wie sie beschaffen sein sollte und ob er schon hellhörig genug war, sie zu vernehmen. Er hatte mal gelesen, es wäre der Duft der Dinge, der es dem Menschen ermöglicht, jederzeit an die Vergangenheit anzuknüpfen; selbst an die begrabene und entschwundene. Es war bestimmt klug und vor allem weitsichtig, überlegte Otto, sich rechtzeitig den Duft von Kindheit, Frieden und Heimat einzuverleiben.
    »Otto hat kein Taschentuch«, meldete Victoria.
    »Sieh lieber zu, dass du das Tischtuch nicht noch mal vollkleckerst, Fräulein Petze«, maßregelte sie die Mutter. »Als Kinder haben wir immer gesagt: Man liebt den Verrat, nicht den Verräter.«
    »Das sagt man heute noch«, wusste Clara.
    War es gut, wenn sich einer, der am Kreuzweg seines Lebens stand, auch die Stimmen der Seinen merkte, die Scherze und kleinen Bosheiten, die Blicke und die Gesten? Oder reichte die Nase, damit der Mensch nicht vergaß? Es roch nach dem scharf gebrannten Kaffee, auf dem der

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