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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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seinem Kaiser frappierend ähnlich sah und der gleich seinem Herrn einen verkrüppelten linken Arm hatte, hatte den körperlichen Zustand des Kriegsfreiwilligen Sternberg als einwandfrei, ihn selbst als militärtauglich und sofort verwendungsfähig befunden. Und dieser künftige Held, der sich geschworen hatte, bis zum letzten Lebenstage des Kaisers Rock mit Stolz und in Tapferkeit zu tragen, erlebte in der letzten Stunde seines Daseins als Zivilist eine Beklemmung, die ihn frösteln machte. Die Unsicherheit beschämte ihn. In einem furchtbaren Moment der Selbsterkenntnis beneidete er den Vater, dem sein Alter und seine abgenutzten Gelenke die uralte Männerfurcht ersparten, er könnte versagen und weniger stark und nicht so tapfer sein wie die anderen an seiner Seite.
    Otto rieb seine Hände aneinander. Im August, an einem heißen Sommermorgen, waren seine Finger winterklamm. War er nicht immer der Erste gewesen, der im Herbst mit Handschuhen und langen Wollstrümpfen in die Schule gekommen war? »Unser Bubi, das jüdische Mamakind. Lasst ihm doch seine Mütze. Sonst fallen ihm die Öhrchen ab. Lauf, Bubi, lauf. Die Kinder Israels sind immer gelaufen.« Das war die Stimme von Petersen. Petersen war stets nur mit Ach und Krach versetzt worden, aber aller Liebling – auch der Lehrer.
    Zusammen mit Petersen war für Otto aus dem Grauen längst verdrängter Ängste die alte Kinderhoffnung aufgetaucht, unter den Tisch zu kriechen und dort auf Zwergengröße zu schrumpfen. Eine Tarnkappe hatte er sich überstülpen und für immer aus dem Leben derer verschwinden wollen, die von einem wehrlosen Jungen Antworten forderten, die er nicht zu geben vermochte. Und doch war an diesem Tag der Tage die Angst von nur kurzer Dauer. Otto hob den Kopf, dem Recken Siegfried gleich, der strahlend und tapfer und unbesiegbar gewesen war. Auch der junge Ritter Sternberg vertraute der Zukunft, und wie einst Siegfried war auch er ohne Argwohn.
    Mit einem einzigen Schlag köpfte der designierte Verteidiger des Vaterlands sein Ei. Ein großes, braunes, Gesundheit verheißendes Ei in einem silbernen Becher mit einem Löffel aus Horn, damit der Geschmack nicht leide. Siegfrieds Vetter im Geiste, gerüstet, um in den Kampf um die deutsche Ehre zu ziehen, fragte sich nicht, weshalb er als Einziger an einem gewöhnlichen Wochentag ein Sonntagsei bekommen hatte. Er drückte seine Brust hinaus, machte seine Schultern so breit wie die von Atlas, der sich die Weltkugel aufgeladen hatte, und lächelte. Mochte er auch seine Henkersmahlzeit zu sich nehmen, er war nicht einer, der die Zügel lockerte. Das Schicksal hatte ihn einbestellt, um den Himmel zu stürmen. »Wir sind alle deutsche Brüder«, hatte der Kaiser in Berlin gesagt, der seit dem 1. August weder Parteien noch Konfessionen kannte.
    Des Kaisers Rekrut legte den Löffel auf das Tischtuch. Er wippte leicht mit dem Stuhl. Wer wagte noch, ihm das zu verbieten? Niemand mehr wies Zappelphilipp in Scham und Schande vom Tisch. Keiner befahl ihm, das Messer nicht in die Butterdose zu stecken, den Marmeladenlöffel nicht abzulecken und nach dem Essen die Serviette ordentlich zusammenzufalten. »Willst du nicht aufstehen, Otto, wenn wir beten?« Die Blicke dessen, der am falschen Ort und zur falschen Zeit geträumt und es versäumt hatte, für Gott vom Stuhl zu springen, wanderten vom Parkett zum Stuck an der Decke. Er sah sich um – lange und gründlich und so, als müsse er Meldung machen, wie es bis zum Krieg, der schon der Große war, im Heim einer braven deutschen Familie zugegangen war.
    Otto, gestern noch ein Knabe mit Tintenfingern und ohne Verantwortung für das eigene Leben, nun ein Mann zwischen Aufbruch und Neubeginn, spähte in alle Ecken und Nischen, er schaute unter Tische und hinter Gardinen; sein Hirn registrierte akribisch und machte Meldung an seine Seele. Die Fülle des Gesehenen erdrückte ihn, scheinbar soeben erst Aufgetauchtes machte ihn benommen. Wie ein staunendes Kind rieb er die Augen, machte den Mund auf wie ein Tor, der nichts begreift, und zum Schluss konnte er sich nicht entscheiden, ob er träumte oder ob er schon Odysseus geworden war, der erst nach zwanzig Jahren in die Heimat zu Weib und Sohn und Hund zurückkehren würde.
    Noch war dieser Held ein deutscher Sohn, dem der Vater mit dem grauen Haar an den Schläfen die Kraft der Jugend neidete. Das Vaterland hatte ja nur für den Sohn Verwendung. Ihm gab es die Waffen, die Deutschlands Feinde das Fürchten lehren

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