01 Das Haus in der Rothschildallee
sollten. Otto – nicht sein erfolgreicher, selbstbewusster, allwissender Vater – war es, der aus dem Krieg mit Offizierssternen und Tapferkeitsorden heimkehren würde. Zu einer Mutter mit Tränen in den Augen und einem Vater, der endlich begriffen hatte, welche Kraft und Ausdauer in seinem Erstgeboren steckten. Und Josepha, die seinen jüngeren Bruder Erwin verwöhnt hatte, als sei er ihr eigener Sohn und der Prinz von Arkadien in einer Person, würde keinen außer den heimgekehrten Helden an ihren Napfkuchen mit den in Rum getränkten Rosinen lassen. »Finger weg, Erwin, der Kuchen ist nur für meinen Bub.«
Als Otto die Bilanz eines Lebens erstellte, das in sechzig Minuten nur noch Erinnerung sein würde, brannte seine Haut, sein Kopf loderte. Unter dem Tischtuch legte er die Hände an die Hosennaht. Er schlug die Hacken zusammen und riss die Augen so weit auf, dass sie in ihren Höhlen schmerzten; er entdeckte Möbelstücke und Bilder, die ihm fremd waren, und dann nahm er Düfte wahr, die seine Nase nicht einzuordnen vermochte. Otto, aus der Kindheit in Ehren entlassen, befeuchtete seine Lippen. Er schmeckte eine Süße, die all seine Sinne berauschte. Oder war es etwa doch die trügerische Süße, die jedem Abschied innewohnt? Gerade vor ihr hatte ihn sein Freund Theo gewarnt. Hatte Ottos sensibler Lebensbegleiter, der sich nie in die Irre führen ließ und von den Worten der Schwadronierenden schon gar nicht, mehr gewusst, als er sagen wollte? Weshalb war nicht mehr Zeit geblieben, um die letzte Frage zu stellen?
Seit wann hatte der Diwan mit den Löwenfüßen einen blauen Überzug? War der mit Bauernblumen bemalte Hocker in der Tür zum Wintergarten schon immer da gewesen, woher kam die rosafarbene Gießkanne, und wann war das kleine rot angestrichene Windrad wieder aufgetaucht? Der große, gütige, immer geduldige Bruder hatte es in der Urzeit unbeschwerter Kindertage für die kleine Schwester mit den roten Masernflecken gebastelt. »Weine nicht, Victoria, mein Windrad verjagt jeden Schmerz. Du musst es nur anpusten.«
Beklommen fragte sich der ratlose Jüngling, der dabei war, in eine Welt zu stürmen, in der es allein nach Schwefeldampf und dem Männerschweiß der Tapferen riechen würde, ob es allen in seiner Lage so erging. Hieß Abschiednehmen Vater, Mutter, Bruder und Schwestern verlassen, um neu geboren zu werden? Der Krieg ist der Vater aller Dinge, aller Dinge König. »Sternberg, für morgen schreibst du den schönen Satz von Heraklit hundertmal ab. Das wird dich lehren, in der Geschichtsstunde nicht zum Fenster hinauszuglotzen.« In seinem ganzen Leben würde Otto Sternberg keinen Satz mehr hundertmal schreiben. Von wegen Arbeit und Schülerpflicht und den Rücken beugen vor der Lehrerobrigkeit. Er war kein Schüler mehr: Er war nur noch bereit, in einer einzigen Schule zu lernen, in der Schule der Nation.
»Otto, wo bist du mit deinen Gedanken?«, fragte die Mutter. Sie fragte, obwohl sie Bescheid wusste. Ein Blick in das Zimmer des Sohns, ein Blick auf das Gesicht ihres Mannes, ehe er aus dem Haus geeilt war, als wären alle Furien hinter ihm her, hatten ihr gereicht.
»Wo soll ich denn sein?«, fragte der scheinheilige Sohn. Es war gut, lobte sich der, der sich für klug und umsichtig und schon für einen Helden hielt, dass er in der Nacht seinen Tornister gepackt und unter dem Bett versteckt hatte.
»Willst du nicht dein Brötchen essen, Otto?«
Auf dem Deckel vom senfgelben Honigtopf breitete eine gläserne Biene ihre braunen Flügel aus. Hatte Victoria nicht erst gestern mit Erdbeermund verkündet, die Biene hieße Maja und gehöre zum Hofstaat von Königin Helene VIII.? Das putzige Fräulein Sternberg mit Sternen in den Augen, der Liebling aller alten Tanten und der gütigen Onkel mit goldener Uhrkette und glänzendem Schnurrbart, war soeben sechs Jahre alt geworden. Das schöne Buch von Waldemar Bonsels, ein Geburtstagsgeschenk von Tante Jettchen, die immer auf dem Laufenden war mit der Literatur für die Jüngsten, weil sie selbst so gerne Kinderbücher las, war gerade erst erschienen. Sogar Otto, schon damals immens beschäftigt, um schneller erwachsen zu werden als andere Jungen, hatte seiner kleinen Schwester ein Kapitel vorgelesen.
»Wie hieß die Giftspinne?«, fragte er, denn er hatte nicht achtgegeben und war den Fangarmen der Vergangenheit nicht rechtzeitig entkommen.
»Thekla«, sagte Victoria. Sie schmatzte und grinste und wunderte sich kein bisschen, dass ihr großer
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