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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Bruder, der schon Zigaretten rauchte und sich beim Mittagessen selbst aus der Gemüseschüssel bedienen durfte und nie Spinat zu essen brauchte, beim Frühstück von Maja sprach. Prinzessin Victoria war vergnügt wie sonst nie, war sie doch die Einzige am Tisch, die ihrem klugen, erwachsenen Bruder auf seine Frage hatte antworten können.
    Das hübsche Honigfässchen aus Pforzheim, das einst auch Betsy und deren Geschwister entzückt hatte, wurde meistens erst Mitte September aus dem Geschirrschrank geholt. Da wurde das neue jüdische Jahr mit Apfel und Honig und dem Wunsch willkommen geheißen, es möge ein süßes werden. Einen Moment, der indes nicht lange genug währte, um ihn anhaltend zu beunruhigen, überlegte Otto, ob das vorzeitige Auftauchen der gläsernen Biene etwa ein Omen wäre, ein Hinweis des Schicksals auf den Umstand, dass der Rekrut Otto Sternberg dieses Jahr nicht mit seiner Familie Rosch Haschanah feiern würde. Er schüttelte den Kopf. Energisch hielt er sich vor, dass Aberglauben kein passender Wegbegleiter für einen deutschen Mann wäre. »Nein«, sagte er. Er sprach so leise, dass ihn niemand hörte, aber sein Herz klopfte trotzdem Alarm.
    Der kleine Orangenbaum auf dem Fensterbrett im Wintergarten hatte sieben pralle, in der Morgensonne glänzende Früchte. Flankiert war er von zwei üppig blühenden roten Begonien. Auf dem Blumenhocker mit den Delfter Kacheln flaggte der Zimmerhafer blaue Zuversicht. Selbst die Pflanze mit dem garstigen Namen Warzenkaktus blühte – violett und selbstbewusst, wohl beschützt von einem Gartenzwerg mit roter Zipfelmütze und grüner Schürze. Der gutmütige Erwin hatte den Wichtelmann in den Topf geschmuggelt, um die schluchzende kleine Schwester zu trösten. Wegen ihrer Liederlichkeit war sie wie ein ganz gewöhnliches Gassenkind getadelt worden.
    Die Fenster vom Wohnzimmer standen offen. Die frisch gewaschenen Tüllgardinen bauschten sich wie Segel. Im letztmöglichen Moment entkamen zwei Stubenfliegen der wogenden Welle aus Reinlichkeit und Kartoffelstärke. Zitronenduft wehte zum Tisch mit den gelben Milchbechern aus Limoges herüber. Auf dem englischen Trommeltisch mit den zierlichen Metallbeschlägen, die das Kind Otto, Kommandeur aller Zinnsoldaten von Flensburg bis zum Bodensee, einmal abgeschraubt hatte, weil er Brücken für seine Kavallerie brauchte, stand ein bunt bemalter Glaskrug mit Kornblumen. »Kornblumen«, hatte Jettchen noch am Vortag gesagt und Preußens Geschichte total durcheinandergebracht, »sind die Lieblingsblumen unserer verehrten Königin Luise.«
    Otto lächelte, als er sich erinnerte, dass niemand das Tantchen verbessert und keiner gelacht hatte. Selbst Clara, die ewige Besserwisserin, hatte nach drei strengen Belehrungen begriffen, dass alte Menschen einen verbrieften Anspruch darauf haben, von der Keckheit der zungenflinken Jungen verschont zu bleiben. Auf Johann Isidors Stuhl, auf dem kein anderer Platz nehmen durfte, saß ein schwarzes Plüschkaninchen mit einer roten Schleife um den Hals. Otto kniff die Augen zu. Hatte er etwa gestöhnt? Er wagte kaum zu atmen, damit seine Gedanken nicht weiter aus ihrer Umlaufbahn gerieten. Erst vor Kurzem hatte er eine sehr eindrucksvolle Abhandlung über das den Mann gefährdende Wesen der Sentimentalität gelesen. Trotzdem trieb er sich an, die Bilder zu sammeln, die ihn in der Fremde an sein Elternhaus und an seine Heimatstadt erinnern würden.
    Josepha, den Bauch ein wenig vorgestreckt, stand wie jeden Morgen an der Tür, in der Hand die lindgrüne Kaffeekanne mit dem springenden Hirsch. Otto, der unmittelbar vor den Sommerferien einen Hausaufsatz über Gottfried Keller hatte schreiben müssen, fiel die Gedichtzeile »Trink, o Auge, was die Wimper hält« ein. Er spürte einen Schmerz, der seinen Körper mit einer scharfen Axt zu spalten schien. Noch war er nicht alt genug, um zu wissen, dass es Melancholie war, die ihn beutelte. Die Augen sprühten Zorn. Er war Begegnungen mit der Literatur nicht gewöhnt, fühlte sich schutzlos und veralbert.
    »Otto, wenn du nicht endlich deine Milch trinkst«, sagte seine Mutter, »bildet sich Haut, und du lässt wieder alles stehen. Das kann man sich im Krieg nicht mehr leisten.« Wieder die morgendliche Mahnstimme, als wäre das Leben im Lot. Diesmal war es Betsys Stirn, die brannte.
    »Leisten«, krächzte Tante Jettchens Papagei.
    »Deine Milch hat ja schon eine Gänsehaut«, meldete Victoria. Weil sie alles sah, was den anderen entging, und

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