01 Das Haus in der Rothschildallee
also mit Otto ein Geheimnis teilte, kicherte sie in ihren Becher. Damit ihr Kleid und die hellblaue Schürze bis zum Schulbeginn fleckenlos blieben, musste sie, genau wie in ihren frühesten Kindertagen, beim Frühstück die große weiße Damastserviette um den Hals binden. Das Tuch machte ihr Gesicht kleiner und spitzer, als es ohnehin war. Die Augen wirkten groß, dunkel und traurig.
Es waren die Augen seiner kleinen Schwester, die sich in Ottos Gedächtnis brannten. Noch wusste er nicht, dass sich die Erinnerung an Victorias Augen nicht mehr würde löschen lassen. Es bekümmerte ihn, dass er sich ausgerechnet in der letzten Stunde, die ihm mit der Familie blieb, Vorwürfe machte. Hatte er sich nicht zu selten mit Victoria beschäftigt? Kannte er sie überhaupt? Sie war so ganz anders, so sehr viel liebenswerter als die Zwillinge. Erwin und Clara ließen ohnehin keinen Dritten in ihr Leben. Sie waren sich von Anfang selbst genug gewesen, Babys in doppelter Ausführung. Vier Augen, zwanzig Finger und jeder Zahn ein Jubelschrei von Mama. Und von Josepha! Noch als Dreijährige hatten sie das Wörtchen »ich« nicht begriffen. »Wir müssen aufs Klo«, hatte Erwin gemeldet, und Clara: »Der Otto hat uns gehauen« gebrüllt, sobald der große Bruder nur einen von ihnen berührte. Ach, wie süß, die Kleinen! Einfach zum Fressen. Und du, du bist doch der große Bruder, ein richtiger kleiner Mann. Du musst ein Kavalier sein und die Kleinen mit deinen Sachen spielen lassen.
Otto schüttelte sich. Noch nach vierzehn Jahren schüttelte er sich und fühlte sich um das Kinderglück betrogen, von den Eltern geliebt, von den Erwachsenen beachtet zu werden. Er schaute die Zwillinge an, die nie erfahren würden, dass ihnen der Bruder noch in der Abschiedsstunde das Glück ihrer Doppelgeburt neidete. Kein Mensch ahnte, wie oft Otto an Kain gedacht und sich die Courage und die Entschlusskraft des biblischen Brudermörders gewünscht hatte. Trugen auch die das Kainsmal auf der Stirn, die den Dolch nicht aus der Scheide geholt hatten?
Otto starrte auf den weißen Store mit dem Spitzenrand. So stellte er sich ein Leichentuch vor, weiß und ohne Anfang und ohne Ende. War das die Ewigkeit? Oder das Nichts. Schade, dass keine Zeit mehr blieb, um mit Theo über Empfindungen zu sprechen, die einen Mann meuchelten, ehe er den ersten Schuss abgab. Der Albtraum hatte so harmlos, so alltäglich und friedlich begonnen – mit dem Plüschkaninchen und Victorias kohlschwarzen Augen.
Otto setzte an, ihr zu bestätigen, dass er tatsächlich Kaffee trank wie ein Mann und nicht Milch wie ein kleiner Bub, doch er unterdrückte energisch den Hauch von brüderlicher Verschwörung. In den letzten Minuten, die ihm blieben, um seine Kindheit hinter sich zu lassen, würden Scherze mit der kleinen Schwester weder ihm noch ihr guttun.
»Sieh zu, dass du dem ganzen kleinbürgerlichen Abschiedsritus entgehst«, hatte Theo am Vortag gesagt. Sie hatten, abends um halb zehn, von Glühwürmchen in die Irre geführt, auf einer Bank in der Günthersburgallee gesessen und die letzten Fragen der Menschen geklärt. Theo der Weltmann hatte es leicht, das Leben aus distanzierter Perspektive zu betrachten. Er war vorerst wegen eines Lungenleidens in der Kindheit vom Militär zurückgestellt worden, und zudem, so hatte er ausgekundschaftet, sollten Fotografen demnächst zu Sonderaufgaben berufen werden.
»Mütter«, hatte Theo für den Freund analysiert, »kann man leicht hinters Licht führen und ihnen unnötige Sorgen ersparen. Wenn man sich nur ein bisschen zusammennimmt, kann man diesen ganzen Schlamassel von ihnen fernhalten. Mütter glauben ja nur, was sie glauben wollen. Das ist schon immer so gewesen. Denk nur an die Mutter unseres verehrten Kaisers. Die hat den Knaben mit dem lädierten Arm einfach auf einen Gaul setzen lassen und tatsächlich geglaubt, dass aus dem kümmerlichen Buben ein Kaiser wird.«
Was konnte Theo von Müttern wissen? Sechs Jahre alt war er gewesen, als die seine starb. Von der Angst, den Vorahnungen, der Ohnmacht und der Kraft einer Mutter hatte er nie etwas erfahren. In der Nacht, in der sich Otto auf den Abschied vorbereitet hatte, war der Mutter Betsy Sternberg kein Geräusch in seinem Zimmer entgangen. Jeden Seufzer ihres Sohnes hatte sie gehört. Ihr Herz hatte sich wund geschrien, doch ihr Hirn hatte wie immer funktioniert und ihr den Schmerz und die Tränen verwehrt. Nicht mit mir, mein Junge. Mich führt keines meiner Kinder
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