01 Das Haus in der Rothschildallee
Prüfling schuldig geblieben. Auf einen Schlag war er von allen Leiden der Jugend befreit worden. Für immer. Einen Kämpfer um Deutschlands Ehre quälte ein deutscher Lehrer nicht mit Tacitus und Homer oder mit unregelmäßigen französischen Verben. Was brauchte ein Mann der Waffen noch mathematische Formeln, weshalb sollte er über Schiller Auskunft geben oder über die Beschaffenheit des Bodens in der Mark Brandenburg?
Schon begannen sich die Erinnerungen an die Schulzeit zu vergolden. Der Schulausflug nach Wilhelmsbad war großartig gewesen – im April und im Schnee und mit einem Schluck Wacholder aus der Flasche in der Hosentasche. Prost, Herr Direktor! Heute besaufen sich Ihre Primaner. Bis zur Halskrause und zurück. Waren sie nicht alle doch ganz liebenswert gewesen, die Herrn Oberstudienräte und der Direx, die bärtigen Doctores und die stotternden Zwerge, die mit Humor und am Ende auch die ohne? Sie hatten doch alle ihr Bestes gegeben; sie waren tatsächlich überzeugt gewesen, dass Schüler in der Schule für das Leben lernten.
»Ich leg mich noch ein paar Minuten hin«, sagte die Hausfrau, »ich weiß nicht, was das ist, ich werde heute einfach nicht wach.« Sie gähnte geräuschvoll, um die Lüge zu tarnen. Die Zwillinge standen auf und tuschelten, die Köpfe so dicht beieinander, als wären sie zusammengewachsen. Victoria riss die Serviette vom Hals. Sie schaute der Mutter nach und Otto an. Einen Wimpernschlag lang war sie kein Kind mehr. Dann rannte sie los.
Josepha trug das übrig gebliebene Brötchen in die Küche. Tante Jettchen kam in dem Moment in die Diele, da Otto die Mütze aufsetzte. Auch sie war eine Mutter. Auch sie vermochte mit dem Herzen zu sehen. Sie klopfte dem scheidenden Krieger auf die Schulter. Den Kopf gesenkt, ging sie in den Wintergarten. Dort übte sie mit dem Papagei »Otto will Franzosenbrot« zu sagen.
Als er am schmiedeeisernen Tor seines Vaterhauses stand, schaute der künftige Kämpfer nach oben. Er hatte gehofft, Theo noch einmal zu sehen, doch es war Josepha, die am geschlossenen Wohnzimmerfenster stand. Sie hatte die Tüllgardine zur Seite gezogen. Otto legte seine Hand an die Mütze. Frau Loth, die zur Salzsäure erstarrt war, weil sie nach hinten geschaut hatte, fiel ihm ein; er lief schneller, als er vorgehabt hatte.
Obwohl er zum Ostbahnhof einbestellt war, ging er aus schierer Gewohnheit die Burgstraße hinunter. In dem Moment, da er seinen Irrtum bemerkte, sah er Victoria. Sie war nicht, wie ihr jeden Tag aufs Neue streng befohlen, auf dem direkten Weg zur Schule gegangen. Sie stand auf einem Bein vor dem Eckhaus in der Martin-Luther-Straße, die Arme weit ausgebreitet, das Gesicht feuerrot, die rosa Haarschleife verrutscht. Der Schulranzen lag auf einer Hecke. Der kleine Schwamm von der Schiefertafel hing heraus. Zunächst dachte Otto, seine Schwester würde ihre üblichen Faxen machen, um ein wenig Spaß aus dem Schulweg herauszuholen, doch dann sah er, wie sie mit der Spitze ihrer neuen Schuhe einen Stein vor sich herschob. Victoria, die immer Ungehorsame, war nicht allein. Mit dem blonden Mariechen, der gleichaltrigen Tochter vom Ofensetzer Schmidt aus der Höhenstraße, spielte sie Himmel und Hölle. Die Mädchen hatten mit gelber Kreide einen ungewöhnlichen Hickelkreis auf das Pflaster gemalt – der Himmel war hellblau schraffiert, in der Hölle war die Sonne schwarz, die Sterne waren blutrot. Victoria kickte den Stein zu kräftig. Entgegen der Spielregel flog er hoch, landete aber trotzdem im Kreis. »Gewonnen«, behauptete die schlaue Kombattantin. Sie warf ihren linken Schuh nach dem Feind. »Jeder Stoß ein Franzos«, jubelte sie.
»Jeder Tritt ein Brit«, brüllte das Mariechen.
Die Kinder schnallten ihren Ranzen um und fassten sich an den Händen. »Jeder Schuss ein Russ«, sangen sie, als sie in die Schule tanzten.
So kam es, dass der junge Held, der soeben sein Elternhaus mit einem Felsbrocken auf der Brust verlassen hatte, frohen Gemütes, leichten Herzens und beschwingten Schrittes in den Großen Krieg zog.
6
TRÄNENDE HERZEN
Frankfurt, September–November 1914
Am ersten Sonntag im Herbst überflogen große Schwalbenschwärme das Haus in der Rothschildallee 9. Am nächsten Tag sagte Frau Minchen Berghammer zu Josepha, die das grandiose Schauspiel der fliegenden schwarzen Wolken verpasst hatte, früher Vogelflug bedeute einen strengen Winter. Sie müsse sich schleunigst nach Kartoffeln umsehen. Josepha dachte an den gut gefüllten
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