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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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hinters Licht Und dein Vater konnte mir noch nie etwas vormachen.
    Otto saß am Frühstückstisch, als die Mutter in sein Zimmer schlich. Brot, Wurst, Käse, hart gekochte Eier und den gesamten Vorrat von Josephas Rührkuchen packte sie in den grauen Tornister, in dem sie einst mit Tinte in ihrer klaren Schrift den Namen des Sextaners Otto Wilhelm Sternberg geschrieben hatte. In einem weißen Kuvert steckten Sicherheitsnadeln, Hosenknöpfe und ein kurzer Brief, geschrieben auf dem cremefarbenen Büttenpapier mit Johann Isidors Initialen. Otto möge gut auf sich achtgeben, hatte die Mutter gefleht und das Wort »gut« zweimal unterstrichen. Er solle sich erst zur Front melden, wenn er sich in der Gegend auskenne, abends nicht zu gurgeln vergessen und beizeiten seine Socken stopfen lassen, denn »wenn die Löcher zu groß werden, sind die Strümpfe nicht mehr zu retten.
    Meine Gedanken«, schloss Betsy, »werden Tag und Nacht bei Dir sein, mein Sohn. Ich habe Dir deinen Thallith* und die Tefillin** eingepackt. Dein seliger Großvater hätte es so gewollt. Er hat immer gesagt, ohne Thallith und Tefillin geht ein Jude nicht auf eine große Reise. Wer weiß, hatte er immer gesagt, wo man Gott trifft.«
    * Gebetsschal
    ** Gebetsriemen
    Sehr wohl hatte Frau Betsy beim Frühstück bemerkt, dass ihr Ältester statt seiner üblichen, mit drei Löffeln Zucker gesüßten Morgenmilch schwarzen Kaffee trank. Auch zweifelte sie keinen Augenblick, weshalb er sein Brötchen nicht anrührte. Sie sah, dass Otto, dieses große Kind mit den erschrockenen Augen, extrem blass war; aus jedem seiner Atemzüge hörte sie das, was er ihr verschweigen wollte. Wie hätte ihr entgehen sollen, dass die Stunde der Trennung, vor der sie sich seit Tagen fürchtete, gekommen war? Otto saß in seiner derben Jacke und den hellgrauen Knickerbockern am Tisch. Hätte ihn die Mutter fragen sollen, ob er an diesem 19. August Rad fahren oder wandern wolle, ob er mit Mitschülern verabredet sei? Vielleicht zum jährlichen Ausflug nach Königstein? Oder auf den Fuchstanz zum Picknick? Es gab keine Fragen mehr zu stellen, es gab nichts mehr zu sagen.
    Auf dem Garderobentisch in der Diele lag die braune Schildmütze, die Betsy im Frühjahr eingemottet hatte. Und zwischen Ottos Strümpfen und Unterhemden, ganz unten im Tornister, war ein gelbes Reclamheft. Auf den Umschlag hatte Erwins frevelnde Bubenhand vor Urzeiten Goethe auf einem Nachttopf sitzend gemalt, eine Kindertrompete in der Hand und einen Tiroler Hut auf dem Kopf. Es hatte ein mächtiges Donnerwetter vom Vater und einen gewaltigen Bruderzwist gegeben. Auch das Reclamheft hatte Frau Betsy gefunden, denn, wie jede Frau, die sich um ihr Kind sorgt, hielt sie Neugierde für Mutterpflicht.
    »Nimm den Faust mit«, hatte Theo geraten, »mit dem Faust in der Tasche hast du ausgesorgt. Da bist du für jede Lebenslage gerüstet. Das habe ich in den vergangenen Tagen immer wieder von den Leuten zu hören bekommen, die ins Feld gezogen sind. Selbst von denen«, grinste er, »die gar nicht lesen können.«
    »Ach Theo. Ich kann mir das Leben eines Soldaten noch nicht vorstellen, nur eines weiß ich ganz bestimmt: Ich werde mein ganzes Leben nicht mehr den Faust lesen.«
    »Grau, teurer Freund, ist alle Theorie.«
    Schon erkannte Otto das Zitat nicht mehr. Goethe war ihm so fern wie Karl der Große und der Satz des Pythagoras. Ihn, den Mann von achtzehn Jahren, würde keiner mehr knechten. Die Schule schon gar nicht. Seit dem 8. August des herrlichen Jahres 1914 ging der junge Sternberg, vor den Sommerferien noch Unterprimaner am Kaiser-Friedrichs-Gymnasium zu Frankfurt am Main und von keinem einzigen Lehrer mit einer günstigen Zukunftsprognose bedacht, nicht mehr zur Schule. In Ehren und mit den guten Wünschen des gesamten Lehrerkollegiums war er verabschiedet worden. Otto Sternberg, dessen Stolz, Mut und Lerneifer schon am ersten Schultag zermalmt worden waren, weil er noch nicht still zu stehen gelernt hatte, war von der Unter- in die Oberprima versetzt worden. Danach hatte er mit Glanz den schriftlichen Teil des Notabiturs bestanden, nur einen Tag später den mündlichen. Der Kriegsfreiwillige Sternberg staunte immer noch. Wenn er in den Spiegel schaute und den Helden erblickte, der nun dem Ruf des Vaterlands folgen durfte, konnte er sein Glück kaum fassen. Welch ein Zauber war von dem Wort Kriegsfreiwilliger ausgegangen, wie freundlich waren die Lehrer gewesen, wie leicht die Fragen. Keine Antwort war der

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