01 Das Haus in der Rothschildallee
der Hausherr am Morgen ihr zum wiederholten Mal gepredigt, ungeduldiger als sonst und entsprechend gereizt. »Schon gar nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Die Welt erwartet von uns Deutschen, dass wir unsere Pflicht tun.«
»Man kann nie wissen«, hatte seine Frau ihrer Köchin beigepflichtet, »schließlich haben wir ja ewig nichts mehr von Otto gehört. Das könnte ja doch auf ein paar Tage Urlaub deuten. Ich mach mich jedenfalls immer auf Überraschungen gefasst.«
Morgens um acht konnte die Optimistin noch nicht ahnen, dass der dritte Sonntag im September tatsächlich ein Tag der Überraschungen werden würde – und der Tag der Wahrheit. Die zog nicht mit Pauken und Trompeten in die Arena. Sie schlich auf leisen Sohlen an die Kaffeetafel, war zugleich ein sadistisches Gespenst und ein äußerst unwillkommener Gast, verwirrte alle Beteiligten, machte sie erst verlegen, dann stumm. Sowohl der Herr des Hauses als auch seine düpierte Gattin konnten wochenlang nicht fassen, dass ein Gespräch von fünf Minuten eine so gewaltige Lawine ins Rollen gebracht hatte. Noch als Großmutter hörte Betsy ihr Herz klopfen. Jeder Blick und jede Geste blieben ihr gegenwärtig, vor allem die Seufzer, die sie verschluckt hatte, und erst recht die Worte, die sie nicht hatte zurückhalten können. Wie eine Närrin war sie sich vorgekommen, wie eine täppische alte Frau, die nicht mehr auf sich achtet, sich überall lächerlich macht und die ihren eigenen Kindern peinlich wird. Wenn ihr Gedächtnis kein Erbarmen mit ihr hatte und sie zwang, den Weg zurückzugehen, hörte Betsy auch Johann Isidor reden. Dann flehte sie wie damals zum Himmel, er möge auf der Stelle klug werden und schweigen, doch er war nicht klug geworden, und er hatte nicht geschwiegen.
Es war ein Tag der Gegensätze – die Idylle auf der Allee, die liebenswürdigen Pastellfarben, der Vogelflug, ein schwankender Erntewagen, hoch beladen mit Zuckerrüben, alles ein heiteres Zwischenspiel vor der Schlüsselszene. Die beiden Hauptdarsteller saßen schon auf der Bühne: ein seit neunzehn Jahren verheiratetes Paar, das seiner Lebtag noch nicht über Gefühle und Ängste geredet hatte und dem nun aufgegeben war, genau dies zu tun.
Wenn Betsy an dieses Gespräch dachte, war es ihr, als hielte sie eine Fotografie in Händen. Johann Isidors Gesicht mit den markanten Zügen und dem klaren Blick hatte sich auf einen Schlag verzerrt. Aus dem naiven Staunen eines Mannes, der vom ersten Tag der Ehe in seiner fest gemauerten Welt von Pflicht und Bewährung gelebt hatte, war im Bruchteil einer Sekunde eine ungläubige, für eine Frau besonders kränkende Verblüffung geworden.
»Das kannst du doch nicht im Ernst meinen, meine liebe Fritzi«, hatte Johann Isidor gesagt und war nach der Namensverwechslung sofort verstummt. Der Kaffee war in die Untertasse geschwappt. Seine Hand zitterte noch, als er sie hinstellte.
Betsy hatte ihren Mann noch nie so derangiert und hilflos erlebt. Wie ein Ritter ohne Rüstung kam er ihr vor, wie ein Reiter, dem der Fuß aus dem Steigbügel gerutscht ist. Johann Isidor, immer beherrscht und nie um eine Antwort verlegen, war von seinem Denkmal gestürzt. Mit halb geöffnetem Mund saß er da, und statt seine Frau anzuschauen, knetete er seine Hände ineinander wie ein mittelloser Bräutigam, der nicht wagt, von einem reichen Vater die Tochter zu erbitten – eine entsetzliche Mischung aus erschrockenem Kind und altem Mann.
Es gab auch nicht den Hauch eines Zweifels, dass dieser unsanft gestürzte Held genau wusste, dass die Mutter seiner vier Kinder dabei war, einen todbringenden Pfeil aus ihrem Köcher zu ziehen. Die Gelegenheit, den Ehemann der Untreue zu überführen, ließ sich keine Frau entgehen, weder die armen noch die reichen, nicht die klugen und nicht die dummen.
Im alles entscheidenden Augenblick kam Betsy jedoch die trotzige Klugheit zu Hilfe, die es seit Anbeginn der Menschheit den Frauen möglich macht, mit dem Wissen zu leben, dass Männer fehlbar sind und ihre Fleischeslust größer ist als ihr moralisches Empfinden. Mit einem Gefühl von Triumph, das sie zugleich belebte und stark machte, begriff Betsy, dass sie ihren Johann Isidor, diesen vorbildlichen Ehemann und treu sorgenden Familienvater, nie nach einer Person namens Fritzi fragen würde.
Durch ihr Schweigen blieben die Dinge im Lot. Das Ehepaar Sternberg konnte noch miteinander reden, ohne dass er bleich wurde und sie errötete. Im Verlauf der Jahre hatten sie sich
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