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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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zu begrüßen. Noch um vier Uhr nachmittags wähnte er, es sei Nacht.
    Fräulein Victorias Pflichtversäumnis war noch unentdeckt. Deshalb hatte ihr die Mutter gestattet, mit Tante Jettchen in den Zoo zu gehen. Beide waren sie fest entschlossen, alle Freiheiten zu genießen, die alten Damen nicht mehr und kleinen Mädchen noch nicht gestattet waren. Victoria, die pfiffige Lenkerin des eigenen Geschicks, hatte zudem ein besonderes Ziel im Sinn. Sie plante, den Zoobesuch zu nutzen, um von ihrer Tante dringend benötigte Hilfe zu erbitten. Das herzensgute Jettchen würde bestimmt verstehen, wie demütigend es für ein sechsjähriges Schulmädchen war, ihre Puppen nicht zeitgemäß einkleiden zu können. Der Puppenjunge Moritz brauchte dringend eine feldgraue Uniform und ein Gewehr. Dem glücklichen Mariechen hatte die Mutter gleich zwei Puppenuniformen genäht. Nach zähen Verhandlungen hatte sich Mariechen bereit erklärt, eine der beiden Uniformen gegen fünf Groschen und eine Tüte Sahnebonbons herzugeben. Wie meistens hatte Frau Betsy das Geschäft vereitelt und ihrer unglücklichen Tochter brüsk das Geld verweigert. Auch die Sahnebonbons hielt sie seitdem unter Verschluss.
    »Es ist herrlich still, wenn Clara und Erwin fort sind«, sagte Betsy, als sie mit dem grauen Wollknäuel zurück in den Wintergarten kam. »Seit Otto fort ist, führen die sich manchmal auf wie Fünfjährige. Wahrscheinlich vermissen sie den Dompteur, der sie so schön bei der Stange hielt.«
    »Ja«, gab ihr Johann Isidor recht. Er wirkte wie einer, der gerade dabei ist, Abschied zu nehmen, und der vergessen hat, auf sein Gepäck zu achten. Seine Finger zitterten ein wenig, als er eine neue Zigarette aus der Dose nahm. Tabakwaren begannen knapp zu werden. Trotzdem rauchte er seit Kriegsausbruch mehr denn zuvor; er glaubte, nur er würde seine Zigaretten zählen. »Es ist gut, dass wir darauf bestanden haben«, murmelte er und blies das Streichholz aus, »man darf ihnen nicht alles durchgehen lassen.«
    Auf den massiven Druck ihrer Eltern hin waren die Zwillinge – gekränkt und wütend – zu einer Einladung beim befreundeten Ehepaar Goldberg ins Westend aufgebrochen. Deren Kinder, gleichfalls ein Zwillingspaar, feierten den fünfzehnten Geburtstag. Clara und Erwin hatten die beiden nie gemocht. Neuerdings verachteten sie die jungen Goldbergs und erklärten einmütig, man könne sich nirgends mit ihnen sehen lassen, ohne sich zu blamieren. Sie wären miese Parvenüs und schleimige kleine Streber, die sich sogar dem Lehrer in der Religionsschule an den Hals schmissen, obwohl den doch wahrhaftig keiner ernst nehme.
    »Warum sollen wir es ausbaden«, hatte Erwin noch beim Weggehen gemault, »dass ihr Goldbergs seit Jahren kennt? Ja, ja, ich weiß, Madame hat freundschaftliche Verbindungen zum Konditorengewerbe, und das ist heute wichtiger als Stolz und Ehre. Uns ist es peinlich, unsere Seele für ein Stück Torte zu verkaufen.«
    »Hör endlich auf, für deine Schwester zu sprechen. Das hat schon Otto gestört. Ihr seid ja keine kleinen Kinder mehr. Und warte nur ab, wie du über Buttercremetorte denkst, wenn Josephas Vorräte zur Neige gehen, mein Sohn. Oder warum, glaubt der Herr, ist sie schon wieder auf Achse?«
    Josepha war, wie nun oft am Sonntag, unmittelbar nach dem Mittagessen nach Bad Nauheim aufgebrochen. Sie hatte die von ihr in Friedenszeiten bis zum Jüngsten Tag totgesagten Beziehungen zu ihrer Verwandtschaft wieder aufgenommen. Ihrer Meinung nach gab es nicht mehr genug frisches Gemüse und Obst in den Geschäften. Vor allem war die Produktion von Zwetschenmus in Gefahr, wenn sie nicht beizeiten ihre Verhandlungen »mit denen in Nauheim« aufnahm. Also setzte Josepha an ihren freien Sonntagnachmittagen das moosgrüne Reisehütchen auf und packte ein paar von den zerfledderten Groschenromanen ein, die Hanna aus dem Odenwald in der Eile des Aufbruchs in der Rothschildallee zurückgelassen hatte und für die der weibliche Teil ihrer Verwandtschaft einen halben Apfelbaum hergegeben hätte. Hinzu kamen das Geld, das Josepha bei ihren täglichen Einkäufen abzweigte, und die Bekundung, Weihnachten eventuell abgelegte Kinderkleidung mitbringen zu können. »Not lehrt den Affen geigen«, zitierte sie aus ihrem großen Sprichwortschatz, wenn sie sonntags den Weidenkorb aus der Speisekammer holte.
    »Es ist eine Sünde«, pflegte Frau Betsy zu monieren, »die Not herbeizureden. Bis jetzt leiden wir kein bisschen Not. Wir schränken uns

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