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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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Leben blieb stets in den Fugen. Routine war ein verlässlicher Bundesgenosse gegen die Veränderungen der Zeit. Der graue Wollknäuel fiel von Betsys Schoß und rollte bis zum Fuß des Vertikos. Minka fiel ihr ein, ein schneeweißes Katzenkind aus Pforzheim, das keinem Wollbällchen und keiner Garnrolle hatte widerstehen können. Betsy schmeckte Wehmut. Ihr Rücken schmerzte, der Nacken war steif. Was würden die Schwestern, die die »Sternberg’sche« immer um ihr sorgloses Leben und um den wohlhabenden, großzügigen Mann beneidet hatten, zu einer Mutter von zweiundvierzig Jahren sagen? Und was um Himmels willen die eigenen Kinder? Würde Clara mehr maulen als Victoria oder umgekehrt? Bereit zu teilen waren sie beide nie gewesen. Betsy überlegte, ob sie mehr mit ihren Töchtern reden müsste, doch wer redete schon mit seinen Kindern, wenn die gesund waren und es täglich neue Aufgaben gab, und einen Ehemann, der ständig Angst hatte, man würde die Kinder verwöhnen und aus ihnen anspruchsvolle kleine Snobs machen? Vielleicht hätte wenigstens Otto beizeiten lernen sollen, sich dem Leben zu fügen.
    Betsy stand auf und holte den Wollknäuel zurück. Noch konnte sie sich bücken, ohne dass jemand ihren Zustand bemerkte. Sie schob den Store mit dem eingearbeiteten Blumenmuster beiseite, schaute aus dem Fenster des Salons und sah ein goldgelbes Blatt zu Boden segeln. »Schön«, sagte sie. Hatte das Wort noch den gleichen Klang wie im Sommer oder doch schon einen Beigeschmack? Durfte eine Mutter, die nicht wusste, wo sich ihr Sohn befand und ob das Leben zu ihm gut sein würde, sich überhaupt noch an einem Kastanienblatt erfreuen?
    Die Beschaulichkeit der Friedenszeiten war zum Greifen nahe. Auf den Straßen gab es keine marschierenden Soldaten mehr, die wie Schulbuben am Wandertag mit lauten Liedern aus der Stadt zogen und die auf Pappschildern und weißen Transparenten die Zurückbleibenden wissen ließen, Weihnachten wären sie wieder zu Hause. Ob Otto das auch glaubte? Seit er weg war, hatte er nur zwei Karten geschrieben und beide ohne anzugeben, wo er war und wie es ihm ging. Auf der zweiten hatte in winziger, kaum zu entziffernder, fremd gewordener Schrift »Es ist alles ganz anders, als ich gedacht habe« gestanden. Seine Eltern hatten einander angeschaut und beide so getan, als gehörten solche Erkenntnisse zu einem Männerleben. Johann Isidor hatte sogar gelächelt und Betsy aufmunternd auf den Rücken geklopft. Nur abends im Bett hatte er beim Zusammenfalten seiner Zeitung gemurmelt: »Na, ein großer Briefschreiber wird mein Sohn in diesem Leben nicht mehr werden.«
    In der Allee marschierten zwei Buben von ungefähr fünf Jahren. Im Sommer waren sie noch auf einem hölzernen Holländer mit vier Rädern um die Häuser gedonnert. Nun spielten sie Krieg. Sie trugen spitze Helme aus Zeitungspapier, schlugen blecherne Kindertrommeln und schwenkten Holzschwerter. In den Musikpausen beschimpften sie sich als Serben und Russen, bewarfen sich mit Tonklickern und schworen einander den Tod. »Auf immer«, drohte der eine.
    »Nur bis ich nach Hause muss«, schrie der Feind.
    Sonntags gab es wenig Verkehr. Gelegentlich fuhr eine Pferdedroschke in Richtung Innenstadt, selten ein Auto. Die Spaziergänger im Sonntagsstaat waren verschwunden. Liebespaare und alte Männer mit aufgeputzten Ehefrauen am Arm, junge Eltern mit Kind und Kegel, die Buben im Matrosenanzug, die Mädchen mit Flügelkleidern hatten an den Sonntagen zur Rothschildallee gehört wie die Bäume, der Rasen und die Rosenbüsche. Nun, da die jungen Männer im Krieg waren und die Alten sich schämten, dass sie es nicht waren, war das Sonntagsleben auf der Allee zum Stillstand gekommen. Kaum, dass ein Hund bellte, eine Katze ins Gebüsch schlich. Auch die Kinderfräulein mit den steifen weißen Hauben waren von der Bühne verschwunden. Die Frauen im Nordend flüsterten einander feixend zu, die feinen Bonnen wollten lieber jungen Männern in den Lazaretts den Hintern versohlen als den Bälgern reicher Leute.
    Im ersten Stock der Rothschildallee 9 war nur das Schlagen der beiden Uhren zu hören und das Gurren und Kratzen der Tauben, die auf dem Glasdach vom Wintergarten hockten. Selbst Papagei Otto war erschöpft. Beim Mittagessen hatte er sein gesamtes Repertoire zweimal hintereinander gekrächzt. Auch der Kanarienvogel schlief. Victoria hatte wieder einmal am Morgen die Decke nicht von seinem Käfig genommen und ihn um die Freude gebracht, den neuen Tag

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