01 Das Haus in der Rothschildallee
angewöhnt, sonntags die Gespräche zu führen, die sich weder für Kinderohren noch für die des Personals eigneten.
»Jettchen ist nicht in ihrem Zimmer«, beruhigte Betsy ihren Mann. »Du musst dich also nicht so ängstlich umschauen. Sie meint nicht alles ernst, was sie sagt. Im Übrigen hätte ich sie längst gerufen, um mir hier aus der Patsche zu helfen. Im Gegensatz zu deiner Frau kann dein Tantchen nämlich hervorragend stricken.«
Obwohl sie in ihrer Jugend zwei Handarbeitslehrerinnen und die eigene Großmutter von ihrer mangelnden Begabung für das Manuelle überzeugt hatte, war Betsy damit beschäftigt, Maschen für einen grauen Schal anzuschlagen. Zwar war jeder gute Deutsche überzeugt, der Krieg wäre Weihnachten schon zu Ende, doch die meisten von Betsys Freundinnen und auch deren Töchter im Backfischalter strickten eifrig Winterkleidung, und ausnahmslos alle ließen sie die Nadeln für des Kaisers brave Soldaten klappern. Betsy, die für keines ihrer Babys auch nur ein einfaches Jäckchen zustande gebracht hatte, wärmte der Gedanke sehr, ihr Sohn würde im Winter durch einen Schal aus teurer Angorawolle und Bergen von Mutterliebe vor allen Kalamitäten des Krieges geschützt sein.
»Er wird aussehen wie ein Kaninchen«, befand Johann Isidor, »ein jüdisches Kaninchen mit einer jiddischen Mamme. Soweit ich weiß, eignet sich Angorawolle nur für Kinderpullover und als Bettjacken für alte Damen.«
Sein Gesicht verdüsterte sich, als er nach der Zigarettendose griff. Kosmopolitisch klingende Markennamen waren umgehend nach Kriegsausbruch durch deutsche ersetzt worden. Johann Isidor erschien das einer selbstbewussten Nation unwürdig. Zigarettenfirmen zeigten sich besonders vaterlandstreu. Die »Manoli« und die »Gabáty« wurden als Erste umbenannt, aus »Gibson Girl« wurde »Wimpel«. »Chic« war französisch, die Deutschen sollten »flott« sagen. Aus dem englischen »Dandy« wurde ein deutscher »Dalli«.
Die Zigarettendose auf dem Rauchtisch trug einen gelben Aufkleber, der anzeigte, dass Johann Isidors Lieblingsmarke »Duke of York« nun »Graf Yorck von Wartenburg« hieß. Der Hausherr bediente sich kopfschüttelnd. »Auch bei unseren Feinden«, dozierte der stets gut Informierte und hielt seine Zigarette hoch, »kämpft man mit der Zunge. Das verehrte britische Königshaus hat alle Verbindungen zum Haus Sachsen-Coburg-Gotha gekappt und nennt sich nun Windsor. Wenn du mich fragst, gewinnt man so keinen Krieg.«
»Nein«, stimmte Betsy ihm bereitwillig zu. Allerdings galten ihre Sorgen weit mehr ihrem Mann als den sprachlichen Einfällen der Kombattanten. Ihr war klar, dass seine anhaltend schlechte Laune und seine plötzlichen Anfälle von Erschöpfung daher rührten, dass niemand von Belang überhaupt noch nach seiner Meinung fragte. Sämtliche Versuche des soignierten und hoch geachteten Handelsmannes Johann Isidor Sternberg, seinem Vaterland zu dienen, waren fehlgeschlagen – zuletzt sogar eine Bewerbung bei einer Militärdienststelle in Bad Homburg, die sich mit der Nutzbarmachung von gebrauchten Textilien für Kriegszwecke beschäftigte. Selbst der alte Tichauer, Besitzer einer Weinhandlung und schon seit einiger Zeit Rentier, der kurzsichtig wie ein Maulwurf war und einen Wollstoff nicht von Popelin unterscheiden konnte, war dort untergekommen. Johann Isidor hatte das erst am Vortag in der Synagoge erfahren. Seit Otto weg war, ging er fast jeden Sabbat zum Gottesdienst; für seine sensible Frau war auch dies ein Hinweis, dass er Trost suchte. Oder hatte er Angst um seinen Sohn?
Betsy beugte sich über ihr Strickzeug, zählte angestrengt die Maschen und kam jedes Mal zu einem neuen Ergebnis. Ihr wurde bewusst, wie wenig passend der Moment gewesen war, ihrem Mann zu offenbaren, dass er, der mit seinen vierundfünfzig Jahren nicht mehr für sein Vaterland kämpfen durfte, durchaus noch viril genug war, um wieder Vater zu werden. Seit wann knirschte er mit den Zähnen? Noch dazu mitten am Tag? Sie presste ihre Lippen fest aufeinander, die Augen starr auf die Stricknadeln gerichtet.
»Was hast du?«, fragte er.
»Nichts. Ich hab doch kein Wort gesagt.«
»Eben.«
Das Lied war alt, doch immer wieder neu. In der Ehe der Sternbergs wurde nichts offenbart, keine Rechenschaft erwartet, schon gar nicht wurde diskutiert. Ein jeder glaubte zu wissen, was der andere dachte. Die Gewohnheit der Schweigsamkeit bestimmte den Alltag, machte ihn manchmal grau, gelegentlich einsam, doch das
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