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01 Das Haus in der Rothschildallee

01 Das Haus in der Rothschildallee

Titel: 01 Das Haus in der Rothschildallee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefanie Zweig
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»Derlei Firlefanz kommt nur dem Kaiser und den Rothschilds zu.«
    Johann Isidor Sternberg, der gestrenge Handelsmann, für den Disziplin und Haltung so wichtig waren im Leben wie Anstand und Redlichkeit, mochte es ja noch nicht einmal, wenn seine Töchter weinten. Selbst die sechsjährige Victoria schickte er auf ihr Zimmer, wenn sie bei Tisch ihre Tränen nicht halten konnte. Betsy lockerte ihren Schal, zupfte an der Bluse. Ihre Hände waren ruhig.
    »Wie ist es denn dort zugegangen?«, fragte sie. »Am Ostbahnhof meine ich. War Otto sehr aufgeregt? Ich fand, er war an seinem letzten Tag anders als sonst. Er hat ja noch nicht einmal sein Frühstück richtig essen können. Ich meine, er muss doch auch am Bahnhof nervös gewesen sein.«
    »Überhaupt nicht. Ihr Frauen habt einfach zu viel Phantasie. Ich glaube, er hat den ganzen Trubel sogar genossen, die schneidigen Offiziere, die vielen fröhlichen jungen Burschen, die Lieder und das Lachen. Ein bildhübsches junges Mädchen hat ihm eine Rose an den Rucksack gesteckt. Die meisten Männer hatten Blumen am Gewehr, doch er hatte ja noch kein Gewehr. Er war noch nicht in Uniform. Es kann sein, dass ihm das ein bisschen leidgetan hat, aber er hat es nicht gezeigt. Ich war stolz auf ihn.«
    »Ich wusste nicht, dass man Blumen an ein Gewehr stecken kann«, sagte Betsy. »Wir hätten ihm doch eine Rose aus unserem Garten mitgeben können. Das wäre irgendwie persönlicher gewesen.«
    »Irgendwie«, wiederholte Johann Isidor. Er spürte eine große, lähmende Müdigkeit, und er hatte Lust auf einen Cognac, doch er traute sich nicht zu gähnen, und schon gar nicht hatte er den Mut, aufzustehen und die Flasche aus dem Vertiko zu holen.
    Sie starrten die Teekanne an und wünschten sich, einem von beiden würde das erlösende Wort einfallen, doch es war nur der Papagei, der zu reden begann. Er hatte von Erwin »Halt’s Maul« zu sagen gelernt, und er tat es ohne Unterlass. Die Wolken wechselten die Farbe, die Sonne tauchte weg, die Vögel flogen in die Bäume. Betsy stand auf, Johann Isidor folgte ihr so bereitwillig, als würde er immer in den Fußstapfen seiner Frau laufen. Sie setzten sich – auch dies ungewöhnlich – nebeneinander auf die Couch in dem großen Salon. Ihre Arme berührten sich. Betsy fiel ein Opernbesuch im vergangenen November ein, eine wunderbare Aufführung des »Fidelio«. Johann Isidor war eingeschlafen.
    Die Seidenkissen waren weich und kühl, doch nicht beruhigend genug, denn der Vater zürnte Gott, dass er ihn nicht gelehrt hatte, mit seinem Sohn zu sprechen, als die Zeit dafür noch gegeben war. In die Stille hinein sagte er: »Nein.« Es klang, als hätte er im Schlaf geschrien und werde bedroht. Der Moment seiner Schwäche ermutigte Betsy, ihm zu sagen, dass sie wieder schwanger war.
    Er hatte gerade hervorgestoßen: »Das kannst du doch nicht im Ernst meinen, meine liebe Fritzi«, und er war gespensterbleich geworden und seine Pupillen riesengroß. Seine Frau war endgültig zu dem Entschluss gekommen, dass sie ihn nie befragen würde, wohin und zu wem er sich in diesem Moment verirrt hatte. Da schellte es an der Haustür. Dreimal lang und eine ganz kurze Pause zwischen jedem Klingelton. Nur die Familie und das Personal des Hausbesitzers schellten so, stolz und selbstbewusst.
    Jettchen und Victoria kamen nach Hause. Beide sahen sie wie die glücklichen kleinen Mädchen in den Bilderbüchern aus, denn sie waren den Zwängen des Lebens entkommen und in den Himmel getanzt. »Es war wunderschön im Zoo«, sagte Jettchen, »die Tiere sind so friedlich. Selbst die wilden.« Sie legte ihren Hut auf die kleine Konsole in der Diele und schüttelte ihr Haar aus. Jettchen war immer noch schön, ihr Herz so jung wie einst im Mai, als sie der Nachtigall gelauscht, denn sie zählte die Jahre nicht mehr – nicht die, die hinter ihr lagen, und nicht die, die ihr blieben.
    »Es war der schönste Tag in meinem Leben«, präzisierte Victoria, »der allerallerschönste Tag.« Sie sah ihre Eltern an, holte fünfzig Pfennig aus der Tasche ihres meerblauen Samtkleids und tat einen Luftsprung. »Von meinem lieben, lieben Tantchen«, sagte sie triumphierend. »Und morgen kauft sie mir eine Tüte Sahnebonbons. Dann kann ich von Mariechen die Uniform und ein richtiges Gewehr für meinen Moritz kaufen.« Noch als der Puppenjunge bereits feldgrau eingekleidet war und gegen die Briten kämpfte und den Franzosen in den Rücken schoss, wunderte sich Victoria, dass ihre

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